Westlich von Winterthur schlängelt sich die Rumstalstrasse durch die naturbelassene und dünn besiedelte Idylle und verbindet dabei die Winterthurer Aussenwacht Neuburg und das Dorf Pfungen. In einem kleinen Weiler entlang dieser Strasse hat nun eine historische Liegenschaft ein Makeover von Marazzi Reinhardt erhalten: Mit den neu geschaffenen Wohn- und Arbeitsräumen haben die Architekten nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Nachverdichtung in der Peripherie von Winterthur geleistet und den Wandel im Alltag der Gesellschaft aufgegriffen, sondern zugleich dem bedachten Umgang mit Bestand Respekt gezollt. Vielfalt, der Mix von Altem und Neuem sowie die Verflechtung von Wohnen und Arbeit sind somit die prägende Charakteristik der drei neuen Wohneinheiten des Atelierhauses, deren junge und kreative Mieterschaft frischen Wind ins friedvolle Rumstal bringt.
„Gesucht und gefunden“ – so landete der Umbau einer leerstehenden Liegenschaft in der Nähe von Winterthur in den Händen von Marazzi Reinhardt. Denn auf der Suche nach einem geeigneten Architekturbüro wurde der private Bauherr von der Stadt Winterthur auf die beiden ansässigen Architekturschaffenden aufmerksam gemacht, deren Arbeiten sich vorwiegend durch massgeschneiderte und individuelle Lösungsansätze sowie durch unkonventionelle Aufgabenstellungen auszeichnen. So spielten in diesem Umbau- und Sanierungsprojekt neben den Auflagen des Denkmalschutzes, jene Vorgaben hinsichtlich der Nutzung eine zentrale Rolle: Die Lage in einer Weilerzone bedeutete hier, dass ausschliesslich der Arbeit dienende Nutzungen in den Ökonomieteilen erlaubt waren. Auf diese formelle Vorgabe haben die Architekten mit einem kombinierten Raumprogramm reagiert und ein Atelierhaus mit drei Wohneinheiten mit je eigenem Arbeitsraum vorgeschlagen. Die Covidpandemie, gefolgt vom Umdenken in der Arbeitswelt sowie dem neuen Verständnis der Work-Life-Balance spielten diesem kombinierten Raumprogramm dabei massgeblich in die Karten. Dieser Umstand wurde somit als Chance genutzt, um das ganze Volumen mit einer zeitgemässen Form von Wohn- und Arbeitsraum zu bespielen.
Zusammengewürfelt
Der Ausgangspunkt für das neu gedachte Atelierhaus war eine historische Liegenschaft, die bereits 1989 kernsaniert wurde. Im Rahmen dieser Arbeiten wurde eine Wohneinheit in das landwirtschaftliche Gebäude integriert, die sich über vier Geschosse im Baukörper ausbreitete. Schon zu diesem Zeitpunkt prägte ein Potpourri aus verschiedenen Materialien, Zeitzeugen sowie Bauelementen die Erscheinung des Riegelhauses, dessen Geschichte mit den erneuten Ausbaumassnahmen um ein weiteres Kapitel ergänzt wurde.
In dieser aktuellen Bau- und Erweiterungsetappe wurde nun das brachliegende Raumpotenzial in den Ökonomieteilen aktiviert und gleichzeitig angemessene Wohnungsgrössen geschaffen. Der Bestand wurde dabei mit überaus viel Bedacht aufgenommen und die Grosszügigkeit der Wohn- sowie Nutzräume als Qualität über die Rendite mehrerer kleinerer Einheiten gestellt. So gleicht letztendlich nun kein Eck dem anderen, ein 300-jähriges Fachwerk trifft auf Sichtbeton, knarrendes Parkett wird durch geschliffene Anhydritböden ergänzt oder edle Nussbaumtüren mit Handläufen aus rohem, feuerverzinktem Reifstahl kombiniert.
Ähnlich, nicht gleich
Wenn sich die drei realisierten Wohneinheiten mit jeweils einem eigenem Eingang letztlich auch in ihrem Konzept und ihrer Ausstattung ähneln, variieren sie dennoch in der Grösse, der Raumaufteilung und ihrer jeweiligen Raumwirkung. Die Mehrgeschossigkeit sowie die Verschachtelung der Räume, kombiniert mit dem Mix aus Alt und Neu, lassen interessante und unverkennbare Innenräume entstehen. Bedacht gesetzte und teils wiederkehrende Details, ein einheitliches Portfolio an Materialien sowie dennoch die Möglichkeit der eigenen, individuellen Aneignung des Wohnraums ziehen sich dabei als roter Faden durch das Projekt. Eine weitere Gemeinsamkeit der Einheiten präsentiert jeweils das zur Wohnung gehörende Atelier, das, um die Flexibilität der Nutzung zu optimieren, zusätzlich separat erschlossen ist und an den privaten Aussenraum der jeweiligen Partei anschliesst. Dennoch ist die Gemeinschaft ein zentrales Thema in dem ländlichen Kontext, die durch den gemeinsam genutzten Hofplatz eine Begegnungszone für die Bewohner:innen erhält und betont wird.
Gut integriert
Die grösste Wohnung grenzt an die Zufahrtsstrasse und fasst den strassenseitigen ehemaligen Ökonomieteil mit dem Wohnhaus zusammen: Die dort untergebrachten Wohnräume orientieren sich somit zum gegenüberliegenden Hang und erlauben Ausblicke auf die Reben, während das darunterliegende Atelier von einem direkten Zugang von der Strasse profitiert. Die typische Holzlattung und die dunkle Farbgebung der Fassade wurden dabei belassen, sodass sich dieser Gebäudeteil weiterhin vom restlichen Baukörper abhebt – jedoch nur in der äusseren Erscheinung.
Im Inneren des ehemaligen landwirtschaftlichen Gebäudeteils begeistern nun überhohe Räume mit sichtbaren Balken und Dachschrägen und verleihen dem Wohnen unter dem Dach eine enorme Grosszügigkeit sowie eine einmalige Ausstrahlung. Aufgrund der prägenden Fassadenlattung, die vor den Fensterflächen teils ausgespart wurde, konnte der Sichtschutz für die privaten Räume gewährleistet werden, ohne den Ausblick einzuschränken, und zugleich eine interessante Lichtstimmung im Innenraum geschaffen werden. Zwei neue Gauben, weitere Dachfenster, das rückversetzte Dachgeschoss sowie dank Wanddurchbrüchen und -öffnungen wird die Tageslichtverteilung in der Wohnung zudem verstärkt.
Erschlossen sind die beiden oberen Etagen durch relativ schmale Treppen, die übereinanderliegend vom Wohnungseingang in die Küche und den angrenzenden Wohnbereich führen. Hier verleihen überhohe Innenräume mit sichtbaren Balken und Dachschrägen dem Wohnen unter dem Dach eine enorme Grosszügigkeit, wobei verschiedene Bodenniveaus den Raum zonieren. Während das Wohnzimmer im Ökonomieteil mit der doppelten Raumhöhe begeistert, wird die Küche von einer Galerie in ihrer Höhe begrenzt, die die Erschliessung im Dachgeschoss aufnimmt und zugleich spannende Blickwinkel ermöglicht.
Mit den diversen Abstufungen, Rücksprüngen und unterschiedlichen Raumhöhen wird vor allem in dieser Wohneinheit die Idee des Raumplans vorbildlich aufgezeigt, der subtil Raumsituationen ausformuliert und dabei unnötige Erschliessungsflächen und Türen ausspart. So findet man ebenfalls in der obersten Etage, die sich über die gesamte Geäudelänge erstreckt, zwei unterschiedliche Niveaus. Das Schlafzimmer wurde als Raumkammer unter dem Dach eingefügt und grenzt als Volumen zugleich das Gästezimmer im hinteren Eck ab. Direkt neben dem Treppenaufgang findet ein offenes Büro Platz, von welchem man direkt in die Küche blicken kann. Über der Küche wurde das Badezimmer integriert, dessen Wanddurchbruch belassen wurde, sodass von der Badewanne aus nun Einblicke in das Geschehen im schräg darunterliegenden Wohn- und Essbereich möglich sind. Wo möglich wurde während der Sanierung die bestehende Substanz erhalten, und die neu eingefügten Elemente wurden bewusst sichtbar gemacht bzw. farblich vom Bestand abgehoben. Farbige Kontraste schaffen auch die unterschiedlichen Bodenbeläge, die sich in ihrer Materialität an der Geschichte des Nutzbaus orientieren. So ergänzen Platten aus stranggepresster Naturkeramik den geschliffenen Anhydritboden und die dunkelgrünen Fliesen im Badezimmer – eine Anspielung an den originalen Kachelofen im Haus – schaffen einen unerwartet kräftigen, aber dennoch harmonischen Farbtupfer.
Gut gemischt
Die zweite Wohnung befindet sich ebenfalls auf mehreren Ebenen, verschränkt als mittlere Einheit mit den beiden aussen liegenden Wohneinheiten und bespielt sowohl den Bestands- als auch den Ersatzneubau – wortwörtlich wurde sie ums Eck gedacht. Ebenso wie die grösste Wohneinheit ist sie über den bekiesten Innenhof erschlossen, wobei man sich hier jedoch direkt im offenen Wohn- und Essbereich wiederfindet. Im Gegensatz zu den hohen Räumen der Dachgeschosswohnung sind hier die Raumhöhen deutlich gedrungener und die ausschliesslich horizontalen Decken von den sichtbaren Balken strukturiert. Im Rahmen des Ausbaus musste die tragende Struktur aus statischen Gründen verdoppelt werden, wobei zugleich die Geschossdecken hinsichtlich Schall- und Brandschutz ertüchtigt wurden. Dies wurde jedoch so ausgeführt, dass die offenen Balkendecken weiterhin als Gestaltungselement erhalten blieben, aber zugleich als wohnungstrennende Bauteile funktionieren. Selbst die neu eingebaute Werkstatt im Untergeschoss ist dank dem bedachten Schallschutz lärmtechnisch kein Problem. Den Beweise liefert das darüberliegende Schlafzimmer der benachbarten Partei, die selbst ausserhalb regulärer Arbeitszeiten von den Grossmaschinen nichts mitbekommt.
Neben der Tragstruktur lassen sich viele weitere Details in der gesamten Wohnung finden, die den historischen Bestand in den Vordergrund rücken. So auch in der Ausführung der neuen Sichtbetontreppe, die von der Küche ins obere Geschoss führt, ohne dabei die dahinter liegende Feuerwand des Kachelofens zu verdecken. Zugleich wurde bei ihrer Planung explizit auf die Höhe der Treppenabsätze geachtet, sodass zusätzliche Absturzsicherungen umgangen werden konnten und der offene Wohnraum keine weiteren raumtrennenden Elemente erhielt.
Neben der geschickten Raumanordnung und dem Galerie-ähnlichen Podest oberhalb der Küche zieht sich vor allem der Materialmix als gestalterisches Merkmal als roter Faden des Projekts in dieser Wohnung fort: Schräge Fachwerkwände treffen auf originale gusseiserne Stützen vom Bahnhof Winterthur, die auf dem Grundstück gefunden wurden, und edel anmutende Innentüren aus Nussbaum mit Messingbeschlägen stehen roh belassenen Kücheneinbauten aus französischer Seekiefer gegenüber. Mit der markanten Maserung sorgen die Schälfurniere der Küchenfronten für einen Hingucker, rohe Stahlgitter und -handläufe ergänzen das Gesamtbild und unterstreichen den Kontrast zu den historischen Elementen wie den Tür- und Fensterbeschlägen, den Parkettböden oder den alten Holzbalken. Hingegen wurden andere neue Elemente – wie beispielsweise die Fenster – in ihrer Gestaltung den Vorgängern angepasst und lassen den vergangenen Zeitgeist weiterleben.
Der private Aussenraum dieser Partei grenzt an den Atelierraum bzw. die Werkstatt im Untergeschoss des Ersatzneubaus, der zugleich den separierten Zugang zum Arbeitsraum aufnimmt und dort einen Vorplatz eröffnet. Dabei wurde der Begriff der Privatsphäre beim Wort genommen: So richtet sich die Blickachse der darüberliegenden Wohnung in die andere Richtung und gewährt einen Ausblick auf den zu ihr gehörenden Aussenbereich ums Eck.
Übergänge schaffen
Von eben jenem Vorplatz, der sich zur Rumstalstrasse orientiert, ist die Haupterschliessung der dritten und kleinsten Wohnung vorgesehen. Über den ebenfalls offen ausformulierten Wohnbereich im Untergeschoss des bestehenden Gebäudes führt eine neue Betonskulptur in den dazugehörigen Atelierraum im Ersatzneubau. Im Übergang dieser beiden Gebäudeteile und zu Beginn des Treppenabsatzes wurde das Bad im unteren Geschoss eingeschoben und somit platzsparend integriert. Gleichzeitig scheint es, als vereinen der Sichtbetonaufgang zwei Welten: Während sich das Atelier auf dem Niveau des Kiesplatzes in der Materialisierung und der Gestaltung sehr modern präsentiert und den Beton weiterführt, prägt der Charme des historischen Bestandes den tiefer liegenden Wohnbereich. Demnach sind auch hier die sichtbaren Balken, die Decke und die niedrigere Raumhöhe prägende gestalterische Merkmale, die von der bestehenden hölzernen Eingangstür mit farbigen Glaselementen – vor allem beim richtigen Sonneneinfall – in Farbe getaucht werden. Einen Kontrast dazu stellt das als Schlafzimmer genutzte Atelier dar, das sich durch einen Materialmix aus chilenischer Seekiefer und Sichtbeton sowie schwarzen Radiatoren an den hellen Wänden präsentiert. Diese Kombination unterschiedlicher Oberflächen und unterschiedlicher Farbigkeit lässt hier eine überaus angenehme und heimelige Atmosphäre entstehen, die von den grosszügigen Fensterflächen in Richtung Rumstal profitiert. Ebenfalls wurden Verglasungen zum gemeinschaftlichen Innenhof hin beinahe auf die gesamte Wand ausgedehnt, wobei deren Transparenz individuell angepasst werden kann. Die mit dunkelroten Vertikallatten gestaltete Fassade des Ersatzneubaus – eine Anspielung an die umliegenden traditionellen Bauten – wurde mit beweglichen Elementen ausgeführt, sodass diese als Sichtschutz vor die raumhohen Verglasungen geschoben werden können. Durch die dezente Farbgebung hebt sich dieser neue Gebäudeteil vom restlichen Bestand ab, greift mit seiner Gestaltungssprache zugleich alte Muster auf und ergänzt somit das Ensemble mit einer absoluten Selbstverständlichkeit.
Balanceakt
Der feine Grat zwischen Alt und Neu, zwischen dem, eine bestehende Identität aufzugreifen, und dem eine neue zu schaffen sowie auch zwischen Arbeits- und Privatleben präsentiert somit zentrale Themen des Sanierungsprojekts. Trotz der Tatsache, dass es sich hier um historischen und teils denkmalgeschützten Bestand handelt, sind die relevanten Planungsaspekte und Rahmenbedingungen aktueller denn je: Der Umgang mit Bestand im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit und Wiederverwendung, die behutsame Nachverdichtung sowie nicht zuletzt der aktuelle Wandel in der Alltagsgestaltung. Letzterem spielte mit Sicherheit die Covidpandemie als Katalysator in die Karten, wonach Homeoffice sich beinahe zum Standard etablierte und zugleich den Fokus auf den Begriff der Work-Life-Balance richtete. In Anbetracht dieser Neugestaltung des Lebens sowie der Nutzungsvorschriften bedingt durch die Weilerzone zeigt das Atelierhaus im Rumstal eine überaus harmonische und zeitgemässe Lösung auf, die zugleich behutsam und respektvoll den historischen Bestand einbindet und der traditionellen Baukultur Beachtung schenkt. Mit dem Ergebnis von drei individuellen Wohneinheiten, die Platz zur persönlichen Aneignung und zum kreativen Ausleben lassen, die die Grenze zwischen dem Privat- und dem Berufsleben verschwimmen lassen und nicht zuletzt einen charismatischen Mix verschiedenster Architekturelemente sowie -sprachen unter einem Dach vereinen – und glücklicherweise auch einen Match der unterschiedlichen Bewohner:innen vorweisen können. Sodass nun frischer Wind und neues Leben in den alten Wänden in der idyllischen Peripherie Winterthurs Einzug findet.
© Schaub Stierli Fotografie
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