Dr. Urs Wiederkehr ist Bauingenieur und Leiter des Fachbereichs Digitale Prozesse auf der Geschäftsstelle des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA). Für diese 6-teilige Kolumne fokussiert Dr. Urs Wiederkehr 2023 auf die Lokaltermine der Schweiz 1848.
Der Kurort Bad Schinznach, zwischen Brugg und Aarau gelegen, sei das Rütli der modernen Schweiz, weiss Wikipedia zu berichten, und im Buch „Bäderfahrten“ ist eine Wanderung von Baden zu „einer Wiege der neuen Schweiz“ beschrieben. Habe ich somit das Gesuchte, also das Rütli der modernen Schweiz, gefunden und kann mir die restlichen Kolumnen in diesem Jahr ersparen? Um das zu prüfen, mache ich mich für einen Lokaltermin mit einem entsprechenden Faktencheck auf.
Bad Schinznach liegt rund einen Kilometer von der Habsburg entfernt, was eine Verbindung zum Ur-Rütli entstehen lässt: Denn die Befreiungsbestrebungen der Urschweizer richteten sich insbesondere gegen die Tyrannei der Habsburger. Die 1929 im Stil des Neuen Bauens vom Aargauer Architekten Richard Hächler (1897 bis 1966) erbaute und 2018 von LiechtiGrafZumsteg aus Brugg zu acht Wohnungen, Behandlungsräumen und einer Hotelsuite umgebaute Schinznacher Bade-Pension heisst denn auch Haus Habsburg.
Auf der Informationstafel beim Eingang zum Kurhotel im Park erfahre ich, dass hier eine der stärksten Schwefelquellen Europas sprudelt. Das riecht man auch. Zudem befinde man sich am Gründungsort der sogenannten Helvetischen Gesellschaft, die im Jahr 1761 gegründet wurde. Unter „Helvetismus“ werden patriotische Bestrebungen des 18. Jahrhunderts für den Aufbau einer neuen Eidgenossenschaft verstanden, entnehme ich dem „Schweizer Lexikon in 6 Bänden“ (1992). Es herrschte damals eine grosse Unzufriedenheit wegen der Stagnation in den alten Orten. Aufklärerische Kräfte schufen deshalb eine Sozietät – neudeutsch ein soziales Netzwerk – für den intellektuellen Austausch über eine Neuordnung der helvetischen Freundschaft und Eintracht. Neben offiziellen Sitzungen spielten Privatgespräche beim Baden eine wichtige Rolle und selbstverständlich die Geselligkeit bei Speis und Trank. Zudem wurde Geld gespendet. Liebe Leserin, lieber Leser, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass das Berner Inselspital regelmässig arme Patientinnen und Patienten in einer zweitägigen Aare-Bootsfahrt, mit Übernachtung in Solothurn, zur Kur nach Bad Schinznach brachte. – In einer späteren Folge werde ich in einem unerwarteten Zusammenhang wieder darauf zurückkommen.
Habe ich hier das neue Rütli gefunden? Unbestritten sind die Entwicklung und das Ausbrüten von Ideen notwendig, nur so kann daraus etwas Neues entstehen; auch in der Nähe der Habsburg. Mir fehlt aber der Staatsakt, also die festliche Form beziehungsweise Handlung, zur Einführung einer neuen Staatsform. Zudem dauerte es von der Gründung der Helvetischen Gesellschaft immerhin noch 87 Jahre bis zur neuen Bundesverfassung. Dazwischen wurde das Gebiet der heutigen Schweiz von Napoleons Truppen besetzt, und der Sonderbundskrieg von 1847 musste überstanden werden. Die fünf Initianten der Helvetischen Gesellschaft verstarben alle zwischen 1782 und 1816. Als die Schweiz im Jahr 1848 ihre neue Verfassung bekam, wären sie zwischen 111 und 123 Jahre alt gewesen. Auch führt Historiker Georg Kreis Bad Schinznach nicht als Schweizer Erinnerungsort in seinem gleichnamigen Buch auf.
Unter diesen Fakten hat für mich Bad Schinznach keine Chance, das Rütli der modernen Schweiz zu sein. Also geht meine Suche weiter.
Liegt das „Rütli“ der modernen Schweiz ähnlich idyllisch an einem See wie das urschweizerische? Und ist es auch nur mit dem Schiff mühelos erreichbar? Wohl kaum.
Tipps
Website Bad Schinznach: mit Aquarena fun und Flussbad sowie Thermi spa, täglich offen von 8 bis 22 Uhr sowie Kurhotel und Privatklinik Im Park
Ursula Bauer, Jürg Frischknecht: „Bäderfahrten, Wandern und baden, ruhen und sich laben“, Rotpunktverlag, Zürich 2002
Georg Kreis: „Schweizer Erinnerungsorte“, NZZ Libro, Zürich 2010
Heinz Balmer: Zur Geschichte von Bad Schinznach, (Geschichtsbroschüre)
