Matyas Sagi-Kiss (Wirtschaftsjurist FH, Vorstand von Pro Infirmis Schweiz) wohnt im Zollhaus der Genossenschaft Kalkbreite in Zürich, lebt seit Geburt mit Cerebral Parese und fährt eine Elektro Rollstuhl. In dieser 6-teilige Kolumne lädt er zu einem Perspektivenwechsel ein.
Wussten Sie, dass 2024 das Jahr der Jubiläen ist? Das Behindertengleichstellungsgesetz hatte diesen Januar seinen 20. Jahrestag, die UNO-BRK wurde durch die Schweiz – besser spät als nie – vor 10 Jahren ratifiziert und die SIA 500, welche Grundsätze des hindernisfreien Bauens regelt, gibt es seit 15 Jahren. Keine besonders Lange Zeit, wenn wir an die Lebensdauer eines Gebäudes denken, oder? Jedenfalls ist es der ideale Zeitpunkt, sich mit dem Gedanken der Inklusion versus Ausgrenzung auseinanderzusetzen. Jeder Mensch trägt Vorurteile in sich, die zumindest unbewusst unser tägliches Handeln beeinflussen und so de facto zu Diskriminierung führen können. Diese Vorurteile sind tief in uns drin. Dementsprechend sind auch die gebaute Umwelt und tägliche Gebrauchsgegenstände davon beeinflusst.
Manchmal resultieren diese Vorurteile auch in Berührungsängsten, die wir Menschen mit Behinderung oft zu spüren bekommen. Viele Menschen haben Hemmungen, mit uns ins Gespräch zu treten. Meist sind sie auf eine kleine Brücke angewiesen. Bei Rollstuhlfahrer:innen bietet es sich fast so an, uns nach den technischen Besonderheiten des Sitzdrahtesels zu fragen. Wie schnell oder weit fährt Ihr Stuhl maximal? Wie laden Sie ihn auf? Natürlich beantworte ich das meist gerne und geduldig, aber spannend ist das nicht, denn es sind immer die gleichen Fragen und fokussieren auf den Rollstuhl – um den ich im Übrigen sehr froh bin – und daher indirekt auf meine Behinderung. Seit ich meine Assistenzhündin Ginger habe, bietet sich ein Gespräch über den Hund als Icebreaker an. Das empfinde ich als wesentlich angenehmer, denn während der Rollstuhl in den Köpfen der Menschen ohne Behinderung etwas ist, was man nicht will, sind Hunde, und Assistenzhunde erst recht, positiv besetzt und bei Menschen mit und ohne Behinderung gleichermassen gern gesehen. Wenn jemand behauptet, er handle stets reflektiert, sei achtsam und er sei daher nicht der Gefahr ausgesetzt, von Vorurteilen geleitet zu handeln, empfinde ich das als ziemlich naiv.
Nun gibt es Good News und Bad News: Die schlechte Nachricht zuerst: Wenn wir also anerkennen, dass die Diskriminierung aufgrund eines Merkmals meist strukturell/systemisch verankert ist, anerkennen wir damit auch, dass wir alle – inklusive meiner selbst – ein Teil des Problems sind. Und jetzt die gute Nachricht: Wir haben es in der Hand, ob wir auch Teil der Lösung sein wollen. Bei der baulichen Umwelt ist es so, dass vieles nicht oder nur sehr kostspielig ausgebessert werden kann, wenn das fehlende Bewusstsein erst einmal in Stein gemeisselt ist. Umso wichtiger ist Bewusstseinsbildung und Weiterbildung in diesem Bereich. Wussten Sie, dass die eingangs erwähnten Jubiläen begleitet von Aktionstagen gefeiert werden?
Lassen Sie uns gemeinsam an einer inklusiven Zukunft arbeiten. Mehr dazu finden Sie hier.