Andreas Meyer Primavesi, Geschäftsführer von Minergie, spricht im Interview über die Gefahr, wenn nur noch über Emissionen anstatt Energie gesprochen wird, über
die Reaktionen zu den veränderten Minergie-Standards und darüber, was Minergie die nächsten Jahre beschäftigen wird.
Andreas Meyer Primavesi, die Hitzeperiode war im letzten Sommer nicht sehr lang, trotzdem haben sich viele Leute über die hohen Temperaturen beschwert. Werden wir heikler, oder werden die Temperaturen tatsächlich zunehmend zum Problem?
Es ist zu vermuten, dass die Sommermonate nochmals wärmer werden. Und vor allem auch, dass es auch zu mehr Tropennächten, also zu Nächten, in denen die Temperatur über 20 Grad bleibt, kommen wird. Dann funktioniert die Nachtauskühlung nicht mehr. Ich denke aber schon auch, dass die Bedürfnisse gestiegen sind, dass heute höhere Temperaturen in der Nacht weniger gut akzeptiert werden.
Wie erklären Sie sich das?
Das kann ich nur vermuten. Eine Möglichkeit könnte sein: Mieterinnen und Mieter, aber auch Eigenheimbesitzende bezahlen heutzutage sehr viel für Wohnraum, damit steigen auch die Ansprüche. Inzwischen sind diese Ansprüche ohne Kühlung fast nicht mehr zu erfüllen.
Auch Personen in Minergie-Bauten haben sich über zu warme Temperaturen beschwert. Manchmal liegt das Problem bei falsch eingestellten Lüftungen. Wo liegen da die Herausforderungen?
Es gibt Minergie-Gebäude, die 25 Jahre alt sind. Die Lüftungsgeräte, die damals eingebaut worden sind, können teilweise nicht mehr das, was ein neues Lüftungsgerät von heute kann. Die heutigen Geräte sind intelligenter, können die richtige Luftmenge einspeisen und auch Wärme rückgewinnen oder die Luft vorkühlen. Mit einem aktuellen Lüftungsgerät kann man ein sehr gutes Innenraumklima schaffen. Es gibt sicher Geräte, die das noch nicht können, das ist der eine Punkt.
Und der andere?
Andererseits ist die Frage, wie viel Luft in einen Raum gespeist wird. Dies hat sehr viel damit zu tun, wie viele Menschen gerade im Raum anwesend sind. Wenn im Winter ein leerer Raum stark beheizt und belüftet wird, gibt es trockene Luft. Wenn dieser Raum aber voller Menschen ist, gibt es keine trockene Luft, weil die Menschen Feuchtigkeit abgeben. Deshalb ist es in der Realität nicht immer einfach, die richtige Mischung zu finden Wir haben seit einiger Zeit bei Minergie die Anforderung, dass eine Lüftung regulierbar sein muss oder sich selbst reguliert. Ich denke, mit dieser neuen Anforderung werden wir dieses Problem der richtigen Luftmenge in den Griff bekommen. Sobald die Luftmenge stimmt, sind die Leute nämlich zufrieden mit der Luftqualität.
Was hat Minergie in den letzten 26 Jahren erreicht?
Es gibt einen direkten und einen indirekten Effekt. Direkt können wir sehr gut nachweisen, wie viel Energie gespart werden konnte, weil nach Minergie gebaut wurde, und wie viel CO2-Emissionen gespart werden konnten. In den vergangenen Jahren haben wir dank Minergie-Bauten rund 12 Millionen Tonnen CO2 eingespart. Zum Vergleich: In der Schweiz werden jährlich 40 Tonnen CO2 emittiert. Mindestens so wichtig ist, dass Minergie die Gesetzgebung stark beeinflusst hat. Minergie hat in den letzten 26 Jahren aufgezeigt, was noch möglich wäre, nämlich, dass wir in der Schweiz noch deutlich energieeffizienter sein könnten und viel schneller wegkommen könnten von den fossilen Energien. In der Vergangenheit ist die Gesetzgebung jeweils ein paar Jahre später diesen von Minergie aufgezeigten Weg gegangen. Damit hat Minergie noch einen viel grösseren Einfluss auf die Umweltbilanz des Bausektors als nur direkt über die fast 60’000 zertifizierten Gebäude.
Im Moment wird in der Schweiz mehr über Emissionen als über Energie gesprochen. Ist das der richtige Weg?
Wenn wir nur noch über Treibhausgasemissionen sprechen, kann die Energieeffizienz nicht abgebildet werden.
Worin sehen Sie da ein Problem?
Nehmen wir die Photovoltaikenergie als Beispiel. Da könnten wir ja sagen: Es werden keine Emissionen verursacht, da emittiere ich nichts in die Atmosphäre, also spielt auch eine Vergeudung keine Rolle. Das ist ein Irrweg. Wir haben es in der Schweiz sicher noch lange nicht geschafft, unabhängig von fossilen Energielieferanten zu sein. Gerade im Winterhalbjahr sind unser Strom und die Beheizung der Häuser immer noch sehr fossil. Wir haben immer noch über 900 ’000 Gebäude, die mit Öl und Gas beheizt werden. Wenn wir diese Heizungen in nützlicher Frist mit Wärmepumpen ersetzen wollen, müssen wir die Energieeffizienz massiv verbessern. Sonst haben wir ein grosses Problem mit dem Stromnetz – und müssen zudem sehr viele Wind- und Sonnenkraftwerke in unsere Landschaft pflanzen. Deshalb stört es mich, wenn man nur über Emissionen spricht. Es reicht nicht einfach, auf Strom umzusteigen.
Sie haben im letzten Jahr Anpassungen vorgenommen. Wie sind die Reaktionen ausgefallen? Welche Anpassung fällt am schwersten?
Für ein abschliessendes Fazit ist es wohl immer noch zu früh. Wir sehen aber inzwischen, dass unsere Anforderungen erfüllbar sind. Es waren vor allem drei grosse Verschärfungen: ein besserer Schutz vor der Sommerhitze, mehr Eigenstromproduktion und Grenzwerte für die Emissionen in der Erstellung. Für uns ist es derzeit sehr spannend, zu beobachten, ob und wie die Planenden diese neuen Richtwerte erreichen. Wir haben aber auch Rückmeldungen erhalten, dass es je nach Gebäude herausfordernd sein kann, diese neuen Richtwerte einzuhalten. Gerade beim Hitzeschutz, der ist aber sehr wichtig.
Wie findet man da den Mittelweg bei den Anforderungen?
Das ist für uns eine der zentralen Fragen. Wir wollen einerseits unsere Vorreiterrolle beim nachhaltigen Bauen halten und etwas bewirken. Andererseits wollen wir eine breite Wirkung erzielen. Es ist sicher nicht das Ziel, den Minergie-Standard so zu definieren, dass ihn beinahe niemand mehr erreicht. Wir sind der Meinung, dass ein Marktanteil von 10 bis 20 Prozent gut ist für Minergie und die Baubranche. Wenn der Marktanteil grösser wird, sind wir fast zu konventionell. Wenn wir eine einstellige Prozentzahl haben, sinkt der Bekanntheitsgrad.
Was wird Sie die nächsten zwei bis drei Jahre am meisten beschäftigen?
Wir müssen nun konsolidieren, was wir letztes Jahr verändert haben. Die Branche benötigt Zeit, diese Veränderungen zu verarbeiten. Es gibt sicher punktuell Dinge, die wir weiterentwickeln wollen. Der Hitzeschutz wird uns – je nachdem, wie sich die Situation entwickelt – sicher sehr stark beschäftigen. Die Frage, wie wir den Begriff „Netto-null“ auf das Bauen anwenden, ist auch sehr aktuell. Welche Möglichkeiten geben wir den Bauschaften, um seriös ausweisen zu können, dass ein Gebäude netto null CO2 verursacht hat? Die Betriebsphase wollen wir zudem noch genauer anschauen. Um zu gewährleisten, dass ein Gebäude, das mit einem Minergie-Zertifikat ausgezeichnet worden ist, im Betrieb auch tatsächlich so funktioniert wie ausgewiesen. Minergie wird weiterhin einiges bewirken, direkt und indirekt.
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