Matyas Sagi-Kiss (Wirtschaftsjurist FH, Vorstand von Pro Infirmis Schweiz) wohnt im Zollhaus der Genossenschaft Kalkbreite in Zürich, lebt seit Geburt mit Cerebral Parese und fährt eine Elektro Rollstuhl. In dieser 6-teilige Kolumne lädt er zu einem Perspektivenwechsel ein.
Juli ist Disability Pride Month! Seinen Ursprung hat dieser Monat im Jahre 1990 in den USA, als der damals neue Americans with Disabilities Act, das Amerikanische Gleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderungen, im Juli in Kraft trat. Inzwischen ist der Disability Pride Month längst auf andere Länder und Kontinente übergeschwappt, auch wenn das US-amerikanische Behindertengleichstellungsrecht zumindest in Europa seinesgleichen sucht. Dass sich Gesetzgebungen und Normen auch auf Architektur, Design und Technik auswirken, versteht sich von selbst. Im Grunde ist es schade, dass überhaupt gesetzliche Vorgaben und SIA-Normen notwendig sind, um eine inklusivere Gesellschaft und damit Teilhabe zu ermöglichen.
Die Lebenserfahrung hat uns allen, so denke ich, aber gezeigt, dass wir ohne diese dann aber auch nicht wirklich können. Manche betrachten den rechtlichen Rahmen als Unterstützung und die darin erklärte implizite Absicht der Inklusion als Chance. Andere erkennen darin eine Hürde oder gar eine erdrückende Last. Wenn ich an meinen Alltag denke, so wird mir bewusst, wie häufig meine Mitmenschen ohne Behinderung verdutzt feststellen, dass sie über internalisierte Klischees verfügen, was Menschen mit Behinderung angeht, und jeweils völlig verdutzt sind, wenn diese in sich zusammenfallen.
Einige Situationen wiederholen sich immer wieder in verschiedensten Formen, oft muss ich die Situationen aber so stehen lassen, weil ich entweder keine Zeit habe oder mir nicht sicher bin, ob man meine ehrlichen Antworten/Reaktionen überhaupt verarbeiten kann. Nachfolgend erlaube ich mir mal, ein paar mögliche Reaktionen/Antworten zu skizzieren:
Ah, Sie wohnen allein? Geht das denn überhaupt, werden Sie denn nicht betreut? Antwort: Wenn man die Haushaltshilfe als „Betreuung“ statt als Haushaltshilfe bezeichnet, dann schon. Ah, das ist aber schön, dass Sie einen Hund haben „dürfen“. Antwort: Ja, finde ich auch, es gibt Sachen…., antworte ich dann, statt zu fragen, ob diese Frage auch Personen gestellt wird, die keinen Rollstuhl fahren… Ah, Sie arbeiten, dass ist ja grossartig. Finde ich auch, aber ich wüsste auch nicht, wie ich sonst überleben soll, im Lotto gewonnen habe ich nämlich noch nicht. Ah, Sie haben studiert? Ist aber toll, dass das heute möglich ist. Ja, da bin ich auch froh, körperlich arbeiten wäre in meinem Fall aber noch viel schwieriger. Ähnlich merkwürdige Fragen werden gestellt, wenn es um die barrierefreie Architektur oder Design for All geht. Da kommen ja sowieso keine Menschen mit Behinderung hin…
Wie kommt es zu solchen komischen Situationen? Die Ursachen der Benachteiligungen von Minderheiten und damit auch Menschen mit Behinderung sind derart tief in uns allen drin, dass wir sie meist gar nicht als solche identifizieren. Ob wir es nun sinnvoll finden, dass es den Disability Pride Month und somit eine Art Sondermonat gibt, ist eigentlich irrelevant, denn jede Gelegenheit, die sich uns allen bietet, gefestigtes Pseudowissen über die jeweils anderen zu hinterfragen, sollten wir nutzen. Ob wir nun wegen einem Sondertags oder -monats damit anfangen, spielt im Grunde keine Rolle, Hauptsache, wir hinterfragen und kommen dann entsprechend ins Handeln.
Im diesem Sinne nutzen wir gemeinsam das Scheinwerferlicht, welches zumindest teilweise während des Disability Pride Month auf die Barrierefreiheit oder deren Fehlen gerichtet wird, um unsere Umgebung ein Stückchen besser zu machen.
Lassen Sie uns gemeinsam an einer inklusiven Zukunft arbeiten. Mehr dazu finden Sie hier.