Dr. Urs Wiederkehr ist Bauingenieur und Leiter des Fachbereichs Digitale Prozesse auf der Geschäftsstelle des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA). Für diese 6-teilige Kolumne verlässt sich Dr. Urs Wiederkehr 2022 auf den Zufall – so wie er einst zum Schreiben kam.
Als ich Ende 2021 den Zufall zum Thema dieser Kolumnenserie wählte, war mir etwas unwohl bei diesem Gedanken: Würde ich genug Ideen für sechs Artikel haben? Glücklicherweise war ich zu keinem Zeitpunkt gezwungen, der Chefredaktion mitteilen zu müssen, dass ich die Kolumnenserie abbrechen oder auf ein neues Thema umleiten müsse. Zwei Episoden in meiner 2021er-Serie „Urs‘ Wiederkehr an seine Wohnorte“ reichten für die Initialzündung zu diesem Thema: Meine Doktoratsurkunde und die Nachdiplomurkunde meiner Ehefrau Gaby sind auf den gleichen Tag datiert (Folge 4/2021), und im Roman „Strohgold“ von Stefan Frey trägt die Hauptperson Anne-Käthy aus Bünzen im Freiamt meinen Nachnamen „Wiederkehr“ (6/2021). Sind diese Episoden wirklich dem Zufall geschuldet oder sind sie doch eher nicht zufällig?
Betrachten wir zuerst die Datumsübereinstimmung: Weil Gabys Diplomfeier zeitnah zum letztmöglichen Abgabetermin meiner Druckexemplare der Dissertation stattfand, konnte ich die Reise zu den beiden Orten verbinden. Die ETH-Bibliothek und das Kunsthaus Zürich liegen weniger als einen Kilometer auseinander. Dass die Dissertationsurkunde auf dem Datum der Abgabe basierte, war wohl irgendwo beschrieben, aber ich hatte dem vorher keine Beachtung geschenkt.
Beim Namen „Wiederkehr“ vermute ich, dass der Autor Stefan Frey nicht allgemeine Namen wie Meier oder Müller verwenden wollte, denn diese sind geographisch kaum verortbar. Gemäss local.ch, dem offiziellen Telefonbuch, lauten in Bünzen zehn von 357 Einträgen auf den Nachnamen Wiederkehr, was einen Anteil von rund 2,8 Prozent ausmacht. Schon im Nachbarsdorf Boswil sind es nur neun von 884, also etwa 1 Prozent. In Wohlen AG, meinem Wohnort, sind es 0,35 Prozent, in Zürich gar nur 0,07 Prozent. Es ist also nicht so abwegig oder zufällig, einer Romanfigur aus Bünzen den Namen Wiederkehr zu geben.
Allein dem Zufall verdankt auch ein Chemie-Nobelpreisträger wie der Winterthurer Richard Ernst (Folge 5/2021) seinen beruflichen Ruhm nicht: Sein Forschertrieb dürfte erheblich dazu beigetragen haben. So ist das Herumstöbern im Estrich des Elternhauses Ausdruck an Neugier. Der dabei gefundene Chemie-Experimentierkasten lenkte Ernst auf dieses Fachgebiet, für das sich die Familie bereits interessierte: Der Experimentierkasten gelangte ja nicht zufällig in den Haushalt Ernst.
Beim Menschen als Gewohnheitswesen sind regelmässige, sich wiederholende Tätigkeiten gang und gäbe. Kreuzt dabei ein anderes Individuum seinen Weg, dann ist das scheinbar ein Zufall. Unterstrichen wird das Phänomen beispielsweise durch die Konzentration von ÖV-Nutzerinnen und -Nutzern auf nur wenige Abfahrgelegenheiten pro Stunde an einer Quartierhaltestelle. Wenn sich der ÖV-Fahrplan verändert, passen sich die Menschen in ihren Gewohnheiten an. So ist vieles, was wir als Zufall betrachten, nur auf Grund von eingeschränkten anderen Begebenheiten in der als zufällig betrachteten Form zustande gekommen.
Gerne garantiere ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, dass 2023 der Zufall als Kolumnenthema wieder in den Hintergrund tritt. Trotzdem erwarte ich noch dieses Jahr den endgültigen Zu-Fall des neuen Kolumnenthemas.