Ein kürzlich ergangener Entscheid des Bundesgerichts zu einem gegenseitigen Näherbaurecht bietet Anlass, das Institut des Näherbaurechts zu beleuchten und wichtige Punkte dazu in Erinnerung zu rufen.
Näherbaurechte können im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften stehen, was zu unschönen Überraschungen des Zweitbauenden führen kann.
- Bau- und Nutzungsvorschriften
Das öffentliche Baurecht ist grundsätzlich Sache der Kantone. Sie erlassen zur Regelung der Bau- und Nutzungsvorschriften kantonale Baugesetze und delegieren gleichzeitig einen erheblichen Teil ihrer Kompetenz zum Erlass von Bauvorschriften an die Gemeinden. Entsprechend zersplittert sind die Rechtsgrundlagen.
Die baurechtliche Grundordnung definiert die zulässige Nutzung der einzelnen Grundstücke räumlich und inhaltlich. Dazu gehören namentlich Vorschriften betreffend Art und Mass der baulichen Nutzung oder betreffend Gestaltung. Weiter gehören zu den Bauvorschriften Baubeschränkungsnormen wie die Regelung von Abständen, von Fassaden- und Gesamthöhen oder der Anzahl zulässiger Geschosse.
2. Abstandsvorschriften
Mit Abstandsvorschriften sollen gute wohn- und arbeitshygienische Verhältnisse geschaffen werden, indem die gegenseitige Anordnung von Bauten und Anlagen geregelt wird. So gibt es etwa Vorschriften zum Grenz- oder zum Gebäudeabstand, allerdings auch solche, die den zulässigen Abstand von Gewässern oder dem Wald vorschreiben. Letztere Beispiele zeigen, dass Abstände nicht nur der Wohn- und Arbeitshygiene, sondern auch dem Natur- und Umweltschutz sowie generell der Sicherheit dienen. Unter einer guten Wohn- bzw. Arbeitshygiene sind insbesondere eine hinreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung gemeint.
Welcher Bereich auf einer Grundstücksfläche bebaubar ist, ergibt sich im Wesentlichen aus den Abstandsvorschriften. Wie gesehen ist das Baurecht in der Schweiz kantonal und kommunal geregelt, was zu einer unübersichtlichen Anzahl an Baubegriffen führt. Die Interkantonale Vereinbarung zur Harmonisierung der Baubegriffe (IVHB) will hier Abhilfe schaffen. Sie ist ein Vertrag zwischen den Kantonen (Konkordat) mit dem Ziel, die wichtigsten Baubegriffe und Messweisen gesamtschweizerisch zu vereinheitlichen. So werden die Baubegriffe und Messweisen formell definiert, die Masse hingegen nicht materiell festgelegt. Aktuell haben sich folgende 17 Kantone dem Konkordat angeschlossen: Aargau, Appenzell-Innerrhoden, Bern, Basel-Landschaft, Freiburg, Graubünden, Jura, Luzern, Neuenburg, Nidwalden, Obwalden, Schaffhausen, Solothurn, Thurgau, Uri, Wallis und Zug. Der Kanton Zürich ist nicht beigetreten, übernimmt aber 29 der 30 durch die IVHB definierten Begriffe.
Im Zusammenhang mit dem Näherbaurecht sind insbesondere der Grenz- und der Gebäudeabstand von Bedeutung. Der Grenzabstand ist gemäss IVHB definiert als die Entfernung zwischen der projizierten Fassadenlinie und der Parzellengrenze. Die projizierte Fassadenlinie dient dabei als Hilfsgrösse. Der Gebäudeabstand ist die Entfernung zwischen den projizierten Fassadenlinien zweier Gebäude.
Beide Abstandsvorschriften können mit der Einräumung eines Näherbaurechts je nach kantonaler Regelung unterschritten werden. Was mit einem Näherbaurecht allerdings nicht geändert werden kann, sind die Abstände zu Strassen, Wäldern und Gewässern, da die Festlegung solcher Abstände einem öffentlichen Interesse dient.
3. Institution des Näherbaurechts
Um Grenz- und Gebäudeabstände unterschreiten zu dürfen und so den zulässigen Baubereich auszudehnen, vereinbaren benachbarte Grundeigentümerinnen häufig sogenannte Näherbaurechte. In der Praxis kommt solchen Näherbaurechten eine grosse Bedeutung zu, wobei teils erhebliche Unterschiede in den kantonalen Vorschriften zu den Näherbaurechten bestehen.
3.1. Vereinbarung eines Näherbaurechts
Die Einräumung eines Näherbaurechts erfolgt durch privatrechtlichen Vertrag zwischen den benachbarten Grundeigentümerinnen. Inhalt des zweiseitigen (und damit nicht einseitig widerrufbaren) Rechtsgeschäfts ist eine private Abstandsregelung, welche von den üblichen öffentlich-rechtlichen Grenz- oder Gebäudeabstandsvorschriften abweicht. Die Regelung kann sowohl einseitig ausgestaltet werden, d.h. nur eine Partei hat das Recht zum
Näherbauen, und die andere duldet dies, oder sie ist gegenseitig und beide Parteien können von dem Näherbaurecht profitieren bzw. sind damit belastet.
Über die gültige Form der Vereinbarung bestehen kantonale Unterschiede: Im Kanton Zürich wurde das Institut des Näherbaurechts auf kantonaler Ebene mit § 270 Abs. 3 PBG ZH eingeführt. Unter Vorbehalt einwandfreier wohnhygienischer und feuerpolizeilicher Verhältnisse kann durch nachbarliche Vereinbarung ein Näherbaurecht gegründet werden, welchem öffentlich-rechtliche Wirkung zukommt.
Im Kanton Zürich wird weder die Schriftform der Näherbaurechtsvereinbarung noch die Errichtung einer Dienstbarkeit verlangt. Dies ist in vielen Kantonen, z.B. Basel-Stadt, Aargau, Wallis und Solothurn, anders. Dort wird in jedem Fall die Errichtung einer Dienstbarkeit verlangt.
3.2. Wirkungen des Näherbaurechts
Die Zürcher Bestimmung zum Näherbaurecht wurde systematisch bei der Regelung des Grenzabstands eingeordnet. Die Norm geht jedoch auch den Regeln des Gebäudeabstands vor, d.h. mit einem Näherbaurecht können grundsätzlich auch die Gebäudeabstandsvorschriften abweichend von den Bauvorschriften festgelegt werden. Im Kanton Aargau beispielsweise wird die Unterschreitung des Gebäudeabstands sogar ausdrücklich erlaubt.
Nicht so andernorts. Dort besteht eine sogenannte Abrückungspflicht: Der mit dem Näherbaurecht belastete Nachbar verpflichtet sich damit, bei der Realisierung eines späteren Bauvorhabens einen grösseren als den gesetzlichen Grenzabstand einzuhalten, sofern dies notwendig ist, um den zwingenden Gebäudeabstand zu wahren. Diese Pflicht besteht beispielsweise in den Kantonen St.Gallen, Wallis und Solothurn. Dort bleiben die Gebäudeabstände zwingend, selbst wenn die Grenzabstände dispositiv sind, d.h. von den Beteiligten im gemeinsamen Einverständnis abgeändert werden können.
3.3. Unterscheidung zwischen generellem und projektbezogenem Näherbaurecht
Zu unterscheiden ist sodann auch zwischen einem projektbezogenen und einem generellen Näherbaurecht: Beim projektbezogenen Näherbaurecht bezieht sich die Zustimmung lediglich auf ein konkretes Bauvorhaben. Das projektbezogene Näherbaurecht will insbesondere sicherstellen, dass nur solche Bauten und Anlagen im Abstandsbereich erstellt werden, wie sie geplant und vom Nachbar genehmigt wurden. Regelmässig werden deshalb einem projektbezogenen Näherbaurecht von beiden Nachbarn unterschriebene Baupläne beigefügt oder aber im Grundbuch auf die Baupläne verwiesen.
Beim generellen Näherbaurecht verpflichtet sich der Nachbar dagegen im Voraus, Gebäude oder Gebäudeteile im Abstandsbereich im vereinbarten Umfang zu dulden. Er tut dies losgelöst von einem spezifischen Projekt. Weiter kann hierbei zwischen einer absolut generellen Wirkung, wenn die Zustimmung des Nachbarn uneingeschränkt erfolgt, oder einer relativ generellen Wirkung, d.h. die Zustimmung wird mit baulichen Einschränkungen (etwa betreffend Anzahl Stockwerke) verknüpft, unterschieden werden.
4. Streitigkeiten rund um das Näherbaurecht
Vielfach entstehen nach Einräumung eines Näherbaurechts Streitigkeiten über dessen Umfang und Wirkung. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich nicht mehr die ursprünglichen Vertragsparteien gegenüberstehen. Beispielsweise versucht eine Grundstückeigentümerin einen Ersatzneubau im Grenzabstandsbereich zu verhindern, indem sie sich darauf stützt, dass das früher eingeräumte Näherbaurecht nur projektspezifisch und nicht generell erteilt worden sei. Auch die in gewissen Kantonen zwingend einzuhaltenden Gebäudeabstände führen zu Problemen des Zweitbauenden.
So hat das Bundesgericht in einem den Kanton Glarus betreffenden Fall (5A_995/2022) kürzlich die Frage beurteilen müssen, ob das auf einem Grundstück lastende und mit einer Grunddienstbarkeit eingetragene gegenseitige Näherbaurecht den Eigentümer daran hindert, sein öffentlich-rechtlich bewilligtes Bauprojekt zu realisieren. Konkret räumten sich die Parteien ein gegenseitiges Näherbaurecht ein. Gemäss Gericht kann dies von vornherein nur im Rahmen des öffentlich-rechtlich Zulässigen begründet werden, d.h. öffentlich-rechtliche Gebäudeabstände können die beidseitige Umsetzung des Näherbaurechts ausschliessen. Vorliegend hätte die beidseitige Ausübung des gegenseitigen Näherbaurechts zu einer Verletzung der zwingenden Gebäudeabstandsvorschriften geführt. Weil der Grundbucheintrag nicht klärte, wie diese Kollision gelöst werden kann, eruierte das Gericht, was zu gelten habe. Es kam zum Schluss, dass sich aus dem Vertrag keine Abrückungspflicht ergebe in dem Sinne, dass beide Parteien gleichermassen vom gegenseitig eingeräumten Näherbaurecht profitieren könnten. Da dies nicht der Fall sei, profitiere der Erstbauende, und er könne von seinem Näherbaurecht Gebrauch machen, dem Zweitbauenden bleibe hingegen diesfalls die Nutzung seines Näherbaurechts verwehrt.
5. Fazit und Empfehlungen
Dieser Entscheid des Bundesgerichts kann für den Zweitbauenden drastische Folgen haben und schreckt wohl manche Grundeigentümerin auf. Um solche Überraschungen zu verhindern, empfiehlt es sich, die Einräumung von Näherbaurechten vorgängig genau zu überdenken und sich über deren Umfang und Wirkung im Klaren zu sein bzw. dies auch unmissverständlich festzuhalten:
• Die Gesetzesgrundlagen des jeweiligen Kantons bzw. der entsprechenden Gemeinde sind vor Einräumung des Näherbaurechts sorgfältig auf die geltenden Anfordernisse zu studieren.
• Sollen Rechtsnachfolger an das Näherbaurecht gebunden sein, empfiehlt sich die Errichtung einer Dienstbarkeit (sofern dies nicht ohnehin kantonal vorgeschrieben ist). Dies gilt insbesondere bei Errichtung eines generellen Näherbaurechts.
• Soll nur ein projektspezifisches Näherbaurecht eingeräumt werden, ist dies klar festzuhalten, und sind es dabei idealerweise die Pläne beizulegen.
• Unter Berücksichtigung des vorgestellten Bundesgerichtsentscheids ist in Kantonen mit einer Abrückungspflicht bereits bei der Vereinbarung von gegenseitigen Näherbaurechten an mögliche Kollisionen mit dem zwingenden öffentlichen Recht zu denken und idealerweise festzulegen, wie damit umzugehen ist.
Isabelle Hanselmann ist als Rechtsanwältin bei Walder Wyss AG beratend und prozessierend tätig. Daneben berichtet sie in ihrem Blog bauimmorecht.ch regelmässig über aktuelle Themen aus dem Bau- und Immobilienrecht.