Unerwartet zwei weitere „Rütlis“ gefunden

Dr. Urs Wiederkehr ist Bauingenieur und Leiter des Fachbereichs Digitale Prozesse auf der Geschäftsstelle des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA). Für diese 6-teilige Kolumne fokussiert Dr. Urs Wiederkehr 2023 auf die Lokaltermine der Schweiz 1848.

Auf der Suche nach dem Rütli der modernen Schweiz haben zwei heisse Spuren in Bad Schinznach und in Bern nicht zum Ziel geführt. So pausiere ich heute und spreche ein heikles Thema an. Obwohl bei der Entstehung der Bundesverfassung 1848 liberale Kräfte am Werk gewesen waren, wurde die Gleichstellung der Juden auf eine spätere Revision verschoben.

Im frühen Mittelalter wurden die Juden in den Schweizer Städten respektiert und geachtet. Ab dem 16. Jahrhundert wurden sie verbannt und durften sich bis 1866 nur in den beiden nördlich von Baden liegenden Dörfern Endingen und Lengnau, in der Region Surbtal, frei niederlassen. Weitere Diskriminierungen blieben nicht aus. So zeigt die Zollordnung der Badener Holzbrücke von 1730 das Anfallen eines besonderen Leibzolls: „Ein Jud zu Fuss, wann selbiger nicht weiters, als in die Stadt gehet, hin und wieder“ zahlte sechs Mal so viel wie „Reitenden zu Pferd, was nicht Eidgenossen sennd.“ Erst bei den Verfassungsrevisionen um 1866 bzw. 1874 wurde den Juden das Recht der freien Niederlassung und Religionsausübung gewährt.

Im Surbtal sind einige jüdische Bauten erhalten geblieben, die durch den jüdischen Kulturweg verbunden und im zugehörigen Flyer des Aargauer Heimatschutzes „Baukultur entdecken“ dokumentiert sind. In Endingen ist die Synagoge das einzige sakrale Gebäude im Dorf. In Lengnau zeigt das imposante jüdische Gotteshaus das erstarkte Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinde. Erstellt hat es 1847 der Zürcher Architekt Ferdinand Stadler, ein Neffe von Hans Conrad Stadler, dem Erbauer des Rundbaus in Bad Schinznach. An beiden Orten sind Mikwen, rituelle Tauchbäder, erhalten. Auch weitere Bauten werden auf Schautafeln detailliert beschrieben. Zwischen den beiden Dörfern liegt der jüdische Friedhof, der 1750 angelegt worden ist. Ausserdem haben die surbtaler Dörfer auch ein paar namhafte Persönlichkeiten hervorgebracht. Beispielsweise Meyer Guggenheim, dessen Sohn Salomon das Guggenheim Museum in New York gegründet hat sowie Hollywood-Regisseur William Wyler oder der Kunstmaler Willy Guggenheim, alias Varlin. 

Viele Wohnhäuser haben zwei Eingänge gehabt, also Doppeltüren. Damals sind sie ein kreativer Trick gewesen, um die Regeln zu umgehen, die den Juden den Landbesitz und das Beieinanderwohnen mit Christen verboten haben. Heute bilden sie ein Sinnbild für das Nebeneinander von Juden und Christen. Um die jüdisch-christliche Geschichte der beiden Dörfer zu vermitteln, ist in Lengnau ein jüdisches Besucherzentrum geplant, das den Zugang zum jüdischen Erbe erleichtern soll. Der Verein „Doppeltür“ will damit gemäss eigenen Angaben dieses Rütli der Schweizer Juden besser ins Bewusstsein heben und 2025 zur Eröffnung einladen. 

Und so schliesst sich der Kreis zum aktuellen Thema. Übrigens auch das Rütli von Israel befindet sich in der Schweiz, hat vor einem Jahr „Swissinfo“ berichtet: „In Basel habe ich den Judenstaat gegründet“, vermerkte Theodor Herzl nach dem ersten Zionistenkongress im Stadtcasino Basel 1897 in sein Tagebuch. Ausgerufen worden ist der jüdische Staat 1948, hundert Jahre nach der ersten schweizerischen Bundesverfassung.

So haben Sie von zwei weiteren Rütlis in der Schweiz erfahren. Für das Finden des gesuchten bleiben noch zwei Kolumnen übrig.

 

Drei eindrückliche Zeugen der jüdischen Kultur im Aargauer Surbtal: Die Synagoge von Lengnau, ein von Juden und Christen gemeinsam bewohntes Haus mit Doppeltür und der Friedhof.

Tipps

Jüdischer Kulturweg Endingen – Lengnau, mit Flyer „Baukultur entdecken“

Historisches Museum Baden: Mit Ausstellung unter anderem der Zollordnung von 1730

Verein Doppeltür, einmalig jüdisch-christliches Kulturerbe im Surbtal

Swissinfo, Artikel „Warum Israel in Basel geboren wurde

 

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