Stille, die Anwesenheit von allem

„Take a deep breath and exhale fully. Just listen to the surrounding sounds.“ Was sich nach einer Meditationsübung anhört oder gar an eine Atemübung in der Yogapraxis erinnert, ist tatsächlich eine von Gordon Hemptons täglichen Übungen, um sein Bewusstsein und seine Aufmerksamkeit auf die Klänge der Umgebung zu richten. Neben der beruhigenden Wirkung von Stille und der achtsamen Wahrnehmung können wir dadurch zugleich eine Erweiterung unseres auditiven Horizonts erfahren. Denn Geräusche „reisen“, schaffen selbst über Ecken ihren Weg zu unserem Gehör und vermitteln uns vielmehr unterbewusst ein breites Spektrum an Informationen – subtile Emotionen, verursacht von Ereignissen. Und demnach ist das Hören im Prinzip nichts anderes als die eigenen Gefühle wahrzunehmen und Informationen aufzusaugen. Seit mittlerweile 45000 Jahren ist der Mensch genetisch identisch, sodass wir im Unterbewusstsein noch immer dieselben Gefühle in die akustischen Signale hinein interpretieren und uns mehr beeinflussen als wir uns zugestehen. Dabei haben wir lediglich das richtige Zuhören verlernt, eine Fähigkeit, die der amerikanische Akustik-Ökologe uns mit seinen Projekten und seiner Arbeit wieder ins Bewusstsein rufen will.

Gordon, du reist als Akustik-Ökologe rund um den Globus – auf der Suche nach einmaligen Naturlauten sowie stillen Plätzen und um das richtige Zuhören zu erlernen. Wie hast du den Weg in diesen Beruf gefunden?
Ich hatte nie Intention ein professioneller Zuhörer zu werden – zudem gab es die Bezeichnung des Akustik-Ökologen damals noch gar nicht. Und um ganz ehrlich zu sein, ich war zu diesem Zeitpunkt ein miserabler Zuhörer. Klar, konnte ich wie jeder andere Gesprächen folgen, die Tonspur im TV wahrnehmen oder für Freunde ein offenes Ohr haben. Aber die grundlegenden Geräusche, die Laute meiner Umgebung habe ich gekonnt ignoriert, absolut nicht aufgefasst und ihnen keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Erst das Erleben eines Gewitters hat mich wachgerüttelt und mich für die einmalige Geräuschkulisse der Natur aufmerksam gemacht. Danach hab ich mich fast wie berufen gefühlt und derart von dieser Faszination gepackt, dass ich diverse Orte in der Wildnis aufnehmen wollte und vielmehr musste.

Sie widmen Ihr Leben voll und ganz dem (Zu-)Hören. Was fasziniert Sie so sehr an diesem Sinn?
Für die Mehrheit ist das Sehen der wichtigste Sinn, denn sehen bedeutet glauben. Was wir nicht sehen können existiert schlicht und einfach nicht. Daher wäre das schlimmste im Leben, den Sehsinn zu verlieren und Blind zu sein. Doch werfen wir einen Blick in die facettenreiche Fauna: Dort finden wir viele Tierarten, die nicht fähig sind zu sehen, während jedoch alle Arten eine Hörsinn besitzen. Zudem hat die Evolution bisher auch keine Augenlider für unsere Ohren entwickelt – warum wohl? Wir wollen informiert bleiben! Heutzutage wird unsere Denkweise einfach viel zu sehr vom Visuellen bestimmt, sodass wir die unzähligen Informationen von Lauten und Geräuschen viel zu wenig (bewusste) Aufmerksamkeit schenken.

An welche Information denken Sie hier explizit?
Der Sound von Sicherheit, der uns seit jeher evolutionär prägt. In Anbetracht des Wunsches nach einer sicheren Umgebung fühlen wir uns in einer leeren Konzerthalle am wohlsten; wir können jeden einzelnen Schritt akustisch wahrnehmen und ein Flüstern ausmachen – Geräusche, die uns potenzielle Gefahren vermitteln und uns aus dem Schlaf holen. Haben wir alles im „Blick“ – also vielmehr im Ohr – fühlen wir uns sicher und geborgen.

Was zeichnet das richtige Zuhören aus?
Das grösste Problem ist, dass wir beim Zuhören zu viel denken. Heidegger zufolge ist das wahre Zuhören eine Anbetung. Wir müssen uns einfach völlig öffnen, alles in uns aufnehmen und nicht Gefahr laufen, durch unsere Gedanken einen akustischen Filter zu installieren. Ausserdem denke ich, dass die westliche Kultur das Zuhören kaum gemeistert hat.

Wo haben Sie die wahre Wertschätzung für das Hören dann erstmals erfahren?
Während einer Amazonas-Reise. Hier habe ich den Stamm der Cofán getroffen, die Ureinwohner in der ecuadorianischen Amazonasregion, die eine tiefe Verbundenheit mit dem Regenwald – Tsampi – haben. Ganz nach ihrem Motto „Caen’tsu Daja“, das so viel bedeutet wie „lass es geschehen“, beobachten sie ihre Umgebung, nehmen die Natur voll und ganz wahr und lernen sowie verstehen ihre Umwelt. Anstatt aktiv zu machen, steht bei ihnen das aktive beobachten im Vordergrund. Und so gehören die Stille und der Regenwald gleichermassen bewahrt, denn nur so können wir alles andere sichern. Und als ersten Schritt in diese Richtung haben wir 2019 den ersten zertifizierten „Wilderness Quiet Park“ weltweit etabliert, ein ein Millionen Hektar grosses Gewirr des Amazonas-Regenwaldes am Zabalo-Fluss mit einer enormen Artenvielfalt und so wenig menschliche Aktivitäten, dass es als „Meisterwerk der Natur“ bezeichnet werden kann.

Herrscht im Urwald nicht eher eine nervöse Geräuschkulisse? Eine akustische Lebendigkeit, die uns eher Angst macht?
Nein. Unsere Ohren sind dazu gemacht, unserer Umgebung zuzuhören. Warum nehmen wir zum Beispiel Vogelgezwitscher besser wahr und filtern sie aus dem Umgebungslärm, während Gespräche zwischen Menschen vielmehr als Gemurmel an uns vorbeigeht? Genetisch gesehen sind wir nunmal nomadische Jäger, sodass wir in den Vogelgesängen in weiterer Folge Wasser und Nahrung deuten. Denn wo Leben herrscht, muss auch Leben möglich sein – denkt man nur an die Seefahrer, die nach Möwen Ausschau halten.

In einem anderen Interview haben Sie die Erde als solarbetrieben Jukebox bezeichnet. Jeder kennt diese Musikboxen – man wirft eine Münze ein, drückt einen Knopf und sucht sich einen Song aus. Wer übernimmt in Ihrem Vergleich diese Rolle?
Im wahrsten Sinne des Wortes kann sich der stille Reisende den Längen- und Breitengrad auswählen und dort das nächste Ziel (akustisch) entdecken, um der Musik der Natur zu lauschen.  Dazu braucht man allerdings Erfahrung und ein paar hilfreiche Tipps, wie sich die Musik in ihrer Lautstärke und Komplexität verändern kann, die alle in meinem Buch „Earth is a Solar Powered Jukebox“ aufgelistet sind.

Was bedeuten all diese gesammelten Erkenntnisse über das Hören im weiteren Sinne für unser Zuhause?
Beschäftigen wir uns mit unseren eigenen vier Wänden, gehören zwei wesentliche Punkte beachtet, die letztlich enorm zum Wohlbefinden beitragen. Zum einen dürfen wir nicht nur auf die visuelle Komponente unseres Interieurs fokussieren, sondern müssen auch die akustischen Merkmale von Oberflächen beachten. Ich selbst tendiere zu harten, reflektierenden Oberflächen, um beispielsweise das Tapsen der Haustiere zu hören oder andre Geräusche besser verrotten zu können. Im Zentrum dieser Überlegungen steht wieder der Wunsch nach Sicherheit, wofür wir unsere Umgebung ein- und abschätzen können wollen. 

Sie haben von zwei wesentlichen Punkten gesprochen. Was sollte noch einfliessen?
Zum anderen haben wir ja bereits einen Abstecher in den Amazonas gemacht und dessen gesunde Umgebung kurz beleuchtet. Daher finde ich es wichtig, lebende Materialien und Organismen – also vereinfacht Pflanzen – in unsere Umgebung zu integrieren. Wenn wir uns die gesündesten Ökosysteme unseres Planeten ansehen, stellen wir fest, dass dies auch die ruhigsten Orte sind. Es sind die Orte, die der Umwelt Kohlenstoff entziehen, Sauerstoff zum Atmen produzieren und wo gefährdete Arten nicht gefährdet sind.

Was würden Sie InneneinrichtungsberaterInnen hinsichtlich Ihrer Erkenntnisse mit auf den Weg geben?
Vermutlich zu aller erst mal die Cofán zu besuchen, richtiges Zuhören zu lernen und wenn möglich eine Vogelvoliere mitzuplanen. Im besten Fall sollten sie einfach machen und weniger denken – ich sage dazu nur „Caen’tsu Daja“.

You compare the need for clean water to the need for silence. Can you explain that to us?
Yes, thank you.  Water was once taken for granted to be clean because it looked clean—it was difficult for Americans to accept that something as common as clean water had vanished and even the mountain streams could not be trusted.  But then the Cuyahoga River caught on fire in the city of Cleveland and Lake Erie was pronounced a dead lake—the Clean Waters Act began restoration which still continues today.  In this same way, it is difficult to accept that something as simple as quiet has vanished, especially from the United States and Western Europe.  Perhaps you tonight will wake walk outside and listen and say that it is quiet.  But if you tell me this, I will say it is far more likely that you either have a noise induced hearing loss or more likely you have forgotten how to listen.  So I would hand you a microphone and my headphones and you may listen again and immediately you will notice how much noise is present in the humming of electrical wires, the humming of ventilation, the distant pounding of road traffic and the nearly incessant air traffic—then you remove the headphones hoping to restore your sense of quiet and you can’t.  Your brain has been educated and now wants to truly listen—that is simply the way we are wired.  The brain needs and wants to be informed but first has to be persuaded away from false assumptions.

In der Architektur und im Bauwesen ist die Lichtemission zum Beispiel bereits ein häufig diskutiertes und immer wichtiger werdendes Thema. Wie steht es um Lärmemissionen?
Ich bin erstaunt, dass es so lange gedauert hat, bis wir uns dem Thema Lärmbelästigung bewusst geworden sind. Erst viel zu spät haben wir Normen für eine saubere akustische Umgebung geschaffen und die Wichtigkeit einer sauberen akustischen Umgebung erkannt, um zu kommunizieren, Gefahren zu erkennen etc. Vielleicht haben wir uns diesem Thema gegenüber auch einfach taub gestellt, weil die Lärmbelästigung seit Beginn der industriellen Revolution zugenommen hat, die Druckerpresse schnell auf den Massenmarkt kam und nicht in der Lage war, Töne, sondern nur Bilder zu drucken. Wir können jedoch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückgehen und unsere Literatur studieren, um festzustellen, dass die Schriftsteller in einem Gleichgewicht der Sinne schrieben – mit Geräuschen, Anblicken, Gerüchen, Texturen und Geschmack. Heutzutage sind die meisten Beschreibungen visuell dominiert und lassen Klangbeschreibungen gänzlich aus; ganz zu schweigen von den anderen Sinnen. Wir sind nun langsam wieder dabei, unser Recht, die Welt zu verstehen, zurückzufordern – dies ist eine aufregende Zeit in der Geschichte der Menschheit.

Doch es ist nicht nur der Lärm in der Arbeit und der Industrialisierung?
Lärm ist mittlerweile ein allgegenwärtiges Nebenprodukt unserer modernen, mechanisierten Gesellschaft geworden. Da es schwierig ist, ein Gerät zu finden, das keinen Lärm erzeugt, ist die Zahl der Lärmerzeuger gigantisch geworden. Selbst wenn wir in unser vermeintlich ruhiges Zuhause kommen, verursachen wir Geräusche und sind Lärm ausgesetzt: Die Türklingel, die Spülmaschine, das Piepen der Mikrowelle, das Schlürfen der Kaffeemaschine oder das Summen der Elektrogeräte. Und obwohl Lärm wirklich überall um uns herum ist, von raschelnden Blättern bis zu einem Donnerschlag, ist es dieser künstliche Lärm, der die menschliche Gesundheit beeinträchtigt. Doch anstatt die Lärmquellen zu vermehren, sollten wir vielmehr die Geräusche mit Informationen füllen und ihnen wieder eine Bedeutung geben – so wie es uns die Natur vormacht.

Wo sehen Sie demnach die Grenze zwischen Geräuschen und Lärm?
Geräusche haben eine Bedeutung, oft schwach mit komplexen Nuancen, die überlebenswichtige Informationen enthalten können, während Geräusche nur einfache Informationen sind, oft laut und irrelevant für unser Überleben, was dem Hörer den Zugang zu anderen Geräuschen verwehrt. Klang ist das, was wir hören wollen.  Lärm ist das, was wir nicht wollen, weil er keinen Nutzen bringt, sondern nur die Gesundheit beeinträchtigt.  Wissenschaft ist die Poetik des Raums, und Stille ist nicht die Abwesenheit von etwas, sondern die Anwesenheit von allem.

Und wie definieren Sie Stille?
Stille ist die Qualität eines Ortes, an dem man die Anwesenheit von allem spüren kann. Sie ist auch die Abwesenheit von Lärmbelästigung. Lärm ist definiert als jeder laute Reiz, der es schwierig oder unmöglich macht, subtile, schwache und oft bedeutungsvolle Reize bzw. Klänge wahrzunehmen. Dies trifft auf das Hören, Sehen, Riechen und Geschmack sowie den Tastsinn zu. Es ist also wichtig zu erkennen, dass ruhige Räume keine Orte sind, die mit Tanks für sensorische Deprivation vergleichbar sind – im Gegenteil, ruhige Räume sind voller wunderbarer, oft angenehmer Empfindungen.

Kennen wir Stille im Alltag eigentlich noch?
Die meisten modernen Menschen leben in und um städtische Zentren – 55 Prozent der Weltbevölkerung. Ich bin der Meinung, dass sie die Worte Stille und Ruhe verwenden, ohne wirkliche Erfahrung mit wahrer Ruhe zu haben. Sie sagen ruhig, aber was sie meinen, ist leiser, nicht ruhig. Insgesamt ist die Erfahrung der Stille selten geworden, aber nicht unmöglich, und ich glaube nicht, dass sie dank „Quiet Parks International“ jemals ganz verschwinden wird. Doch leider sind selbst häufige Arten, die in der Vergangenheit zu Millionen vorkamen, mittlerweile ausgestorben, so dass es auch möglich ist, dass die Stille – einst vielleicht die häufigste Erfahrung der Welt – aus der menschlichen Erfahrung verschwinden wird. Wenn das passiert, werden wir sicherlich alle verrückt werden, denn die Praxis der Stille ist allen spirituellen Glaubensrichtungen und Religionen gemeinsam.

An welchen Orten ist wahre Stille noch erfahrbar?
Wer Ruhe sucht, dem empfehle ich den Zabalo River Wilderness Quiet Park, den in Kürze angekündigten Boundary Waters Canoe Area Wilderness Quiet Park, die Kalahari-Wüste oder auch der in Kürze angekündigte Haleakala Quiet Trail in Maui. Eigentlich würden mir noch einige mehr einfallen.

Und Ihr Lieblingssound, von dem Sie nicht genug bekommen?
Hier kann ich unzählige Geräusche aus der Natur aufzählen: Das Kichern von Kindern, selbst das Kichern eines Erwachsenen ist unbezahlbar, das Summen von Insektenflügeln vor Sonnenaufgang, um den Morgentau abzuschütteln und sich auf einen frühen Flug zum Nektar zu begeben. Oder die unscheinbaren Vibrationen des Holzes der Sitka-Fichte, die man an den Stränden der Wildnis findet, die sogenannten tiefe Töne von Bassgeigen in der Wildnis erzeugt, das ferne Brüllen eines Brüllaffen, wenn das Männchen brüllt und sein Partner seine Stimmbänder streichelt, um seine Botschaft an alle zu übermitteln. Das schwache Aufsteigen der Soda Springs in Yosemite, das so deutlich klingt, dass es sich nur durch ein Wunder erklären lässt, das Geräusch des schmelzenden Schnees an einem späten Nachmittag im August hoch in den Alpen und noch vieles mehr. Das Zuhören erschliesst dem Zuhörer die Welt – unser Zuhause. Wenn wir ihr wieder genau zuhören und uns neu in unseren Planeten verlieben, werden die Umweltkrisen vorbei sein. Denn wir retten einfach, was wir lieben.

© Shawn Parkin

Mehr über die Arbeit von Gordon Hempton erfahren Sie hier.

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