Dr. Urs Wiederkehr ist Bauingenieur und Verantwortlicher für Digitale Prozesse in der Geschäftsstelle des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA). Für diese achtteilige Kolumne aus Anlass der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels besucht er 2020 diverse Orte im Städtedreieck Bellinzona-Lugano-Locarno.
704 Seelen wohnten Ende des 16. Jahrhunderts in den Weilern oberhalb des Monte Carasso im Sopra Ceneri. Heute würden ihre Bewohner direkt zu den neuen Tunnelportalen auf der anderen Seite der Magadinoebene blicken. Nirgendwo war ich öfters in meinen Ferien als an dieser Collina Alta. Bis 1993 musste ich immer erklären, wo der Ort liegt. Seit die Gemeinde den Wakkerpreis gewann – als Anerkennung für die architektonisch hochwertige Verdichtung und Entwicklung – besuchten unzählige Architekten und Raumplanerinnen Monte Carasso. Im gleichen Jahr erhielt der Macher dahinter, SIA-Ehrenmitglied Luigi Snozzi, den „Prince of Wales Prize in Urban Design“ der Harvard-Universität. Und seit 2015 eine 270 m lange tibetanische Hängebrücke den Wildbach im Valle di Sementina in 130 m Höhe überquert, bringen auch viele Ingenieurinnen und Ingenieure Ortskenntnisse mit.
Der Wildbach Sementina wusch das Tal aus und schuf einen Schwemmkegel, der den Fluss Ticino abgedrängt hat. Der Talgrund war stets Durchgangsland, so beispielsweise für Soldaten, die zu den Kriegsschauplätzen im Süden unterwegs waren. Die feuchte Magadinoebene lud nicht fürs Wohnen ein. Kein Wunder, dass darum einige hundert Meter über dem Talgrund diverse Weiler angelegt wurden. Im 18. Jahrhundert verliessen die Leute diese Orte aber plötzlich und zogen ins Tal. Niemand weiss warum. Die Siedlungen zerfielen, und der Wald eroberte sein Territorium wieder zurück.
Unterdessen ist der Weiler Curzútt durch die gleichnamige Stiftung instand gesetzt worden. Die nahe liegende Kirche San Barnárd aus dem 15. Jahrhundert mit den wertvollen Fresken ist ein Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung. Sowieso, die Gottesfurcht muss gross gewesen sein, denn drei weitere Kirchen sind auf Ortsgebiet zu finden. Weiter oben, inmitten der weitläufigen Kastanienwälder, wird der Weiler Puncète zu einer archäologischen Zone umgewandelt. Die Ruinen werden konserviert und sonst ihrem Schicksal überlassen. Nur die Grà, das Dörrhaus für die Kastanien, wird rekonstruiert. Übrigens waren damals 150 kg Kastanien pro Person notwendig, um den Winter zu überstehen.
Luigi Snozzi fügte in der Talsiedlung die Klosteranlage aus dem Mittelalter zusammen, die nach der Aufhebung parzelliert und auf die Bevölkerung aufgeteilt worden war, und wandelte sie zu einer Schule um. Einige Gebäude im Dorfkern stammen von ihm. Neben weiteren Tessiner Architekten hat auch Mario Botta Spuren hinterlassen. Obwohl Monte Carasso nun ein Quartier von Bellinzona ist, wirkt die Siedlung für mich zu massig auf dem feinen Grundstücksraster des Ortes.
Markant sind die Fortini della Fame, Befestigungsmauern und Türme, die General Dufour entwarf. Sie wurden im Rahmen eines Arbeitsbeschaffungsprogramms in der Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut, nachdem alle Tessiner in der Lombardei wegen Sympathie zur italienischen Freiheitsbewegung vom österreichischen General Radetzky nach Hause geschickt wurden und eine Hungersnot ausbrach. Daher auch der Name der Befestigungsmauern, der übersetzt heisst: „Hungerfestungen“.
Drei SIA-Ehrenmitglieder mit Macherqualitäten, Snozzi, Botta und Dufour – letzterer gar SIA-Ehrenpräsident – eine Hängebrücke und die Unmittelbarkeit zu einem der grossen Alptransit-Tunnel sorgen dafür, dass viel SIA-DNA in Monte Carasso steckt.