Kolumnistin Brigitta Schild meldet sich in jeder Ausgabe mit einem Brief bei einem Protagonisten oder einer Protagonistin der Architekturgeschichte. In der Ausgabe 06/2019 schreibt sie über Max Rudolf Frisch (*15. Mai 1911 in Zürich; †4. April 1991 ebenda), ein Schweizer Schriftsteller und Architekt. Lange Zeit war er unschlüssig, welchen Lebensentwurf er wählen sollte: Architekt oder Schriftsteller – bürgerliches Leben oder künstlerische Existenz. Erst nach dem Erscheinen seines Romans „Stiller“ im Jahre 1954 entschied er sich für das Leben als Literat.
War grad beim Lochergut an diesem verregneten Samstag. Habe entrümpelt und alte Kleider entsorgt, eingekauft und mich vorsorglich mit Vitaminen eingedeckt. Man kann eben immer noch bequem einiges in diesem Plattenbau erledigen. 1966 fertiggestellt und inzwischen sorgfältig renoviert, ist das Lochergut eine Mikrostadt in der Stadt geblieben. So wie geplant und euphorisch gefeiert. Auch von dir. Du warst so begeistert, dass du gleich eingezogen bist. Nach fünf Jahren in Rom und einem Aufenthalt in deinem geliebten Berzona im Tessin wolltest du zurück in deine Heimatstadt. Jetzt, da sie – so schien es wenigstens – endlich das moderne Bauen für sich entdeckt hatte. Wie in Amerika. Natürlich nicht so hoch, aber immerhin versprach es, einen von New York träumen zu lassen…
Eineinhalb Jahre dauerte dein Mietvertrag. Verbracht hast du nur gerade zwei Monate in dieser Maisonette. Zu anonym, ohne Cachet und Charme sei es da gewesen und natürlich zu eng. Lieber Max, ich weiss nicht so recht, ob das wirklich am Bau und an seinen damaligen Bewohnern lag – schliesslich bist du ständig umgezogen und nur zwischendurch immer wieder nach Zürich zurückgekehrt. Du brauchtest die Veränderung und warst ein schreibender Nomade – oder wie du einmal in einem Interview gesagt hast: „Ich schreibe, um zu Hause zu sein.“ Alles festgefahren Bewahrende war dir ein Gräuel. Es verhinderte die Vision. Deine Vision.
Die architektonische hast du 1953 in der Glosse „Cum grano salis“ dargelegt. Da warst du grad aus Amerika und von deiner Mexikoreise zurück. Eng und klein sei die Schweiz, sauber, geschmackvoll und „gepützelt“ ihre Architektur, versessen aufs Detail. Zwar wäre es verrückt, die Altstadt niederzureissen, doch verrückter sei es, sie zu Tode zu sanieren und zur Kulisse verkommen zu lassen, schriebst du. „Lasst uns um Gotteswillen etwas Tapferes tun!“ Mit Zwinglis Worten fordertest du ein Umdenken in Zürich-Nord: Hochhäuser und eine verbindende Schnellbahn statt des kleingeistigen „Spiessbürger-Massstabs“, begrenzt aufs Quartier in Dörfli-Manier.
Nun ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen seit dem Lochergut-Bau und deinem Aufsatz. Zürich würdest du nicht mehr wiedererkennen.
Aber deine Glosse bleibt in ihren Grundzügen aktuell. Denn es wird immer noch gründlich „gepützelt“, Brachflächen und „Unorte“ werden auf „chic“ getrimmt, Hochhäuser sind nicht wirklich hoch, und der alte Baubestand wird trotz besseren Wissens weiterhin ausgehöhlt.
Ein paar Beispiele? Nur kurz:
Schau dir mal Zürich-West an: Das ist durch und durch gestaltet. Und somit kontrolliert. Inspirierendes Chaos konzentriert sich nur noch auf wenige Quadratmeter. Gebaute, spontane Unordentlichkeit verträgt die Zwingli-Stadt eben immer noch schlecht.
Dann die Europaallee beim Hauptbahnhof. Eigentlich fehlt da zur Allee die zweite Baumreihe. Aber so oder so ist sie an Monotonie kaum zu überbieten. Da helfen denn auch keine Details in der Fassadengestaltung. Ein gutes, vorbildlich dichtes, räumliches Konzept – aber eine vertane Chance im architektonischen Ausdruck. Dass die Läden einheitlich beschriftet sind, passt denn auch ins Konzept der bescheidenen Langeweile.
Und last but not least: dein Zürich-Nord. Hier ist inzwischen grosszügig geplant und überbaut worden, bis ins Glattal, ins Flughafengebiet. Die „Dörfli“ sind zusammengewachsen – aber zu was genau? Dass man sich weder das neue Kongresshaus noch den Kunsthaus-Neubau hier draussen vorstellen konnte, zeigt nur, wie stark man immer noch an der inneren Stadt festhält.
Darum noch einmal gilt: „Tut um Gotteswillen etwas Tapferes!“ Schliesslich geht es nicht um einen Kriegszug. Aber um eine Stadt, die nach allen Seiten wächst und als moderner Teil gleichberechtigt bestehen will. Und es geht um unordentliche Unvollkommenheit, die auch mal ins Zentrum rücken sollte. Schliesslich ist genau dort noch Raum für Inspiration und Fantasie. Und die gehören, da bin ich ganz deiner Meinung, zu einer „beglückenden Stadt“.
In diesem Sinn, gespannt auf deine Antwort.
Herzlich,
Brigitta