Lieber Marco

Kolumnistin Brigitta Schild meldet sich in jeder Ausgabe mit einem Brief bei einem Protagonisten oder einer Protagonistin der Architekturgeschichte. In der Ausgabe 08/2019 schreibt sie über Eliezer „El“ Lissitzky (Лазарь Маркович Лисицкий / Lasar Markowitsch Lissitzki *22. November 1890 in Potschinok, Russland; † 30. Dezember 1941 in Moskau), der ein bedeutender russischer Avantgardist war.

Lieber Marco, 
sechs Jahre sind es her, dass ich dir zum ersten Mal geschrieben habe. Immer postlagernd, da ich ja nie recht weiss, ob du noch bei Kublai Khan oder schon weitergezogen bist. Ich nehme an, du sitzt momentan irgendwo fest, da es mit dem Reisen für unbestimmte Zeiten ja vorbei ist. Aber du willst sicher wissen, wie es deiner Stadt geht.

Gut, hast du die schweren Kämpfe Venedigs nicht miterleben müssen: im November Acqua alta, das soviel zerstörte wie selten zuvor, dann im Januar Wassertiefststand und jetzt diese „maledetti“ Partikel mit ihren „Spikes“, die alles dominieren. Sie haben Venedig leer gefegt. Wären andere Städte nicht genauso menschenleer, könnte man denken, dass die Stadt, die leider immer mehr zu einem Freilichtmuseum geworden ist, endlich mal Betriebsferien habe. Die Touristenströme, die deine Stadt enterten, sind wie weggefegt. Die wenigen Einwohner, die dem Ausverkauf der Serenissima trotzen, sind wie überall mit einer Ausgangssperre belegt. Keine Gondeln schaukeln auf den Kanälen, keine Kreuzfahrtschiffe demonstrieren ihre Monstrosität vor den filigranen Konturen der Stadt, und nur ab und zu befördern Vaporetti vereinzelte Passagiere. Im Bahnhof Santa Lucia verkehren nur noch wenige inländische Züge, und der Flughafen ist quasi lahmgelegt. Stillstand, wohin du schaust. Die Stadt ist verstummt, und selbst für die Tauben ist „La grande bouffe“ vorbei. 

Wären da nicht der verspielte byzantinisch-venezianische Baustil und die verschlungenen Kanäle, die heutigen Aufnahmen erinnerten an die bedrohliche Leere und metaphysischen Stimmungen auf den Bildern Giorgio de Chiricos. Aber die Fotos zeigen eine vertraute Schönheit, der man sich nicht entziehen kann. Auch wenn das Leben fehlt: Es bleibt eine zeitlos morbide Faszination in den räumlichen Bezügen, im Wechsel zwischen architektonischer Grosszügigkeit und verflochtener Enge, zwischen Raum und Objekt, nüchternen und verspielten Fassaden. Die Stille der Architektur sagt alles.

Deine Heimatstadt ist immer wieder von Seuchen heimgesucht worden. 1347 brach die erste grosse Pestwelle über ganz Europa herein. Du warst allerdings schon nicht mehr da. Von Genua und Venedig, den Knotenpunkten des damaligen Welthandels, breitete sie sich aus. Die Lagunenstadt zog aus der Katastrophe ihre Lehren und liess 1423 das erste Pestkrankenhaus „il lazzaretto vecchio“ auf einer kleinen Insel vor dem heutigen Lido bauen. Da wurden die Kranken ihrem Schicksal überlassen – gesund wurde kaum einer.

Fünfundvierzig Jahre später entstand dann die erste Quarantänestation der Welt: „il lazzaretto nuovo“ gegenüber San Erasmo, der heutigen Gemüseinsel. Wer neu in die Stadt kam oder im Verdacht stand, sich mit der Pest infiziert zu haben, musste dort in Quarantäne im Nordosten der Stadt.

Doch das alles half nichts. Im 17. Jahrhundert – Venedig begann bereits an Bedeutung zu verlieren – brach eine neue Pestepidemie aus. Abschotten und Grenzen dichtmachen war für eine so offene Stadt unmöglich. Plötzlich waren nun Medikamente die kostbarsten Handelsgüter. Wer es sich leisten konnte, floh aufs Festland. Wer nicht, rang weiter gegen die Seuche in feuchten Behausungen, wo es von Ratten nur so wimmelte, verzweifelte an den horrend steigenden Preisen für das Nötigste und fürchtete sich vor Plünderern. Während achtzehn Monaten wütete der Schwarze Tod, löschte ein Drittel der damals rund hundertvierzigtausend Einwohner aus und trieb die florierende Handelsmetropole nahezu in den Ruin. 

Tod und Wiederauferstehung – vielleicht konnte damals der Bau einer Votivkirche tatsächlich noch Hoffnung verbreiten in der geschundenen Bevölkerung. Jedenfalls gab es Arbeit, und Santa Maria della Salute, im Viertel Dorsoduro, gleich beim Eingang zum Canale Grande, ist heute noch ein imposantes Zeichen des Danks und Neubeginns. Der Bau dauerte allerdings Jahrzehnte und verschlang Unsummen. Überhaupt war der Weg in die Zukunft lang und teuer.

Das wird auch heute so sein. Aber noch sind wir nicht beim Neubeginn. Die Städte sind immer noch verstummt. „In der vollkommenen Stille hört man die ganze Welt“, schrieb Kurt Tucholsky. In diesem Sinn bin ich gespannt auf die Beiträge der sehr offenen Frage: „How will we live together?“ an der diesjährigen Architekturbiennale.

Herzliche Grüsse und hoffentlich auf bald in den Giardini
Brigitta

Text: Brigitta Schild

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