Kolumnistin Brigitta Schild meldet sich in jeder Ausgabe mit einem Brief bei einem Protagonisten oder einer Protagonistin der Architekturgeschichte. In der Ausgabe 08/2019 schreibt sie über Eliezer „El“ Lissitzky (Лазарь Маркович Лисицкий / Lasar Markowitsch Lissitzki *22. November 1890 in Potschinok, Russland; † 30. Dezember 1941 in Moskau), der ein bedeutender russischer Avantgardist war. Seine Arbeiten und Theorien auf dem Gebiet von Malerei, Architektur, Grafikdesign, Typografie und Fotografie haben dem Konstruktivismus den Weg geebnet – und damit auch eine von der Architektin Zaha Hadid häufig genannte Inspirationsquelle geschaffen.
Lieber Eliezer,
Wenn der Schädel brummt und du weder lesen noch einen ganzen Film schauen magst, dann ist ein bisschen auf Youtube zappen eine ganz passable Abwechslung. Und manchmal kommst du dabei nichtsdestotrotz sogar auf Ideen. Ich, zum Beispiel, dir mal zu schreiben.
Hatte mir nämlich einen Kurzfilm über Zaha Hadids einzige Privatvilla angesehen. Die steht bei Moskau im Viertel der Superreichen auf dem Barwichahügel und sieht aus wie ein rassiges, extraterrestrisches Raumschiff. Aus dem Rumpf ragen zwei hohe, elegante Pfeiler und tragen die privaten Räume über die umliegenden Baumwipfel, frei in den Himmel. Es ist eine futuristisch-pompöse Inszenierung in luftiger Höhe.
Nun, vielleicht lags ja an meinem Dämmerzustand –aber mich liess dieser russische James-Bond-Traum an deine „Wolkenbügel“ denken.
Nicht, dass du jetzt glaubst, ich wolle diese Bauten miteinander vergleichen!
Du bist ja 1890 in Potschinok/Smolensk geboren. Hast früh schon gemalt und in Darmstadt bei Josef Maria Olbrich Architektur studiert. Frisch diplomiert, wurdest du von Deutschland 1914 ausgewiesen. Zurück in Russland hast du immer wieder als Architekt gearbeitet und daneben das Examen als Ingenieur abgelegt. Doch dann kamen Krieg und Revolution, und die Volkswirtschaft stand still. Damals hast du grafisch neuartige jüdische Kinderbücher entworfen und bist Mitglied der Kulturabteilung des Moskauer Arbeiter- und Soldatenrats geworden. 1919 hat dich Chagall dann an die Kunstakademie in Witebsk berufen, wo bereits Tatlin und Kasimir Malewitsch arbeiteten. So lerntest du den Suprematismus kennen.
Ihr wart fasziniert von der Modernisierung, von den neuen Möglichkeiten der Mathematik, die den Raum mehrdimensional erfasste. Einstein eröffnete neue Horizonte. Die Gleichwertigkeit von Masse und Energie, Raum und Zeit waren daher eure Themen. Ihr habt die Ästhetik in der Technik gesucht und analysiert, eure Bilder reduziert und von allem Gegenständlichen befreit. Du, Eliezer, hast in deinen axonometrischen Arbeiten den Übergang von Malerei zur Architektur gesucht, hast die Schwerelosigkeit eingefangen und die Diagonale als vierte Dimension eingeführt. „Prounen“, Projekte für den Umbruch, das Neue, hast du sie genannt. Grossartig!
Mit 31 Jahren warst du bereits Architekturprofessor an der renommierten Kunstschule WChUTEMAS in Moskau, neben dem Bauhaus damals die wichtigste Institution. Da traf die Avantgarde zusammen – allerdings nur so lange, bis der sozialistische Realismus Zwischentöne, Fantasie und Ästhetik ausmerzte.
Architektonisch hast du mit dem „Wolkenbügel“ wohl deinen bekanntesten „Proun“ entwickelt. Ein städtebaulich-ideelles Wahrzeichen; ein Symbol für den Umbruch, für das Kollektiv und somit die Antithese zum amerikanischen Wolkenkratzer. 50 m über Strassenniveau liegt die eigentliche Nutzfläche auf drei räumlich versetzten Pfeilern. Acht Lifte führen entlang der Aussenflächen hinauf, den Schacht für das Treppenhaus umfassend. Die Erschliessungspfeiler sind transparent und machen die Bewegung sichtbar, sowohl von innen wie von aussen. Acht dieser Wolkenbügel, jeweils in anderen Farben, waren geplant. Angeordnet auf den wichtigsten Kreuzungen Moskaus und ausgerichtet auf den Kreml und für alle, das Kollektiv, zugänglich.
Die Schwerkraft mit einem Bau überwinden, sich der Gravitationskraft entziehen allein durch das Zusammenspiel von Kräften, Spannungen und Bewegungen der einzelnen Baukörper, das faszinierte dich als Architekt. Dass die Konstruktion dabei nicht grad wirtschaftlich ist, war dir und deinem Ingenieur Emil Roth sicher bewusst – aber nicht wirklich wichtig. Dieser Proun ist ein Kunstprodukt des Neuen, bedeutungsschwer – oder wie Kurt Schwitters Kunst beschrieb: „Ein Spiel mit ernsten Problemen. Das ist Kunst.“
Danke Eliezer für deine Prounen.
Herzlich
Brigitta