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Oensingen

Dr. Urs Wiederkehr ist Bauingenieur und Verantwortlicher für Digitale Prozesse auf der Geschäftsstelle des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA). In dieser achtteiligen Kolumne besucht er Orte, an denen man in der Regel vorbeifährt und die man selten bewusst besucht. Eindrücke aus zwei Besuchen am 03.09. und 26.10.2019.

Kein gesichtsloser Ort ohne Potenzial
Als ich mein nächstes Halteziel verkündete, kamen zwei Personen auf mich zu: Die erste Person, eine gebürtige Oensingerin, sah kein Potenzial für einen Besuch ihrer Heimatgemeinde. Die zweite Person, die auch Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser von Modulør, bekannt ist, durfte in Oensingen als Militärdienstleistender nach seiner Aussage drei Wochen in einem stickigen Bunker verbringen. Er hofft, dass ich nun seine Erinnerungen an diesen gesichtslosen Ort etwas aufbessern werde. Welche Aufgabe habe ich mir da ausgesucht?!

Andere Orte haben eine Bahnhofstrasse, Oensingen hat sogar eine Bahnhofallee. Zwei Brücken, eine über den Autobahnzubringer und eine über den Fluss Dünnern, dem Oensingen seine frühe Industrialisierung verdankt, führen zum Zentrum. Entlang der Hauptstrasse wechseln sich Handwerkerbetriebe, Arbeiter- und Bauernhäuser mit integriertem Ökonomieteil ab. Auch Gaststätten, aktive, umgenutzte und geschlossene, prägen das Ortsbild. Unzählige Bauten sind durch moderne Elemente ergänzt worden. Ihre historische Bausubstanz konnte so gerettet werden. Mir gefällt das.

Dass Wohnmodelle weiterentwickelt werden, zeigt die Arbeitersiedlung „Neubauten“ für Von-Roll-Arbeiter (1918, Solothurnstrasse 65) und heute, hundert Jahre später, der Roggenpark, wo das moderne Smart Living in einem Showroom und in Musterwohnungen auch für Fremde erfahrbar gemacht wird. Ich sehe aber auch, dass an einer Parallelstrasse zur viel befahrenen Hauptstrasse Richtung Olten noch Landwirtschaft betrieben wird. Die Nähe zur Kalkfelsenlandschaft rund um Oensingen prägt die Neubausiedlung Leuenfeld, wo in den letzten Jahren 350 Wohnungen auf dem früheren Gelände der Von Roll-Werke entstanden sind. Für die Bewohnerinnen und Bewohner steht im Zentrum sogar ein Naturbad zur Verfügung.

Bei der katholischen Kirche und beim historischen Pflugerhof im Unterdorf beginnt im Morgennebel mein Aufstieg zur Neu-Bechburg. Und als ich der gebürtigen Oensingerin, die meinem Vorhaben mit Skepsis begegnet ist, per Whatsapp meine Anwesenheit mit einem mystisch angehauchten Foto der Burg ankündige, komme ich mir schon fast wie im Roman «Le Château des Carpa-thes» vor. In diesem Roman hat Jules Vernes ein drahtloses Bildübermittlungssystem in die 1892 handelnde Geschichte eingebaut. Nach einem dreimaligen Nachrichten-Pingpong finde ich den Löwenbrunnen, der unterhalb der Gartenanlage liegt. Anscheinend machen viele kleine Erinnerungen das Wesen eines „potenziallosen“ Ortes aus, sonst hätte mich die Oensingerin nicht darauf aufmerksam gemacht. Die Bauten des Ensembles Schlossguet sind stilgerecht restauriert. Nicht erwartet habe ich eiserne Geländer an der kurzen Brücke über den Schlossbach auf dem Rückweg ins Dorf. 

Ein geschlossenes Industrietor verwehrt mir leider den Zugang zur Rislisberghöhle in der äusseren Klus. Trotzdem wage ich die Behauptung, dass das Leben in dieser vor über 15 000 Jahren bewohnten Höhle entbehrungsreicher gewesen ist als das dreiwöchige Soldatenleben im Bunker, 250 m östlich der historischen Höhle. Deshalb lohnt sich auch für dich, Marko Sauer, Chefredakteur von Modulør, ein Lokaltermin in Oensingen – ausserhalb eines militärischen Bunkers. 

 

Text: Urs Wiederkehr

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