„Die zukünftig vielfältigen Möglichkeiten, Architektur mit unseren vorhandenen Ressourcen zu denken, entwerfen und bauen zu können, werden zum Inhalt der diesjährigen Architekturbiennale in Tallinn (TAB). Dabei wollen wir uns auf deren verschiedenen Ebenen konzentrieren: von architektonischen Typologien, diversen Baumaterialien und natürlichen Ressourcen bis hin zur Stadtplanung. Die Ausstellung im estnischen Architekturmuseum wird eine weltweite Perspektive auf dieses Thema geben und gleichzeitig ein Aufruf zum Handeln präsentieren“, erläutert das dreiköpfige Kuratorenteam. Einen tieferen Einblick in die Inhalte der TAB sowie dem facettenreichen (persönlichen) Verständnis von Ressourcen haben uns Daniel A. Walser aus Zürich und Anhelina L. Starkova aus Kharkiv repräsentativ für das Kuratorenteam gegeben.
Herr Walser, im Rahmen eines offenen, internationalen Wettbewerbs wurde das diesjährige Thema und das Team der Biennale „Resources for a Future“ gefunden. Wie interpretieren Sie den Titel?
Daniel A. Walser: Ressourcen dürfen nicht lediglich auf ihren ökologischen Aspekt heruntergebrochen und dadurch oberflächlich be- und abgehandelt werden. Denn genau betrachtet behandelt dieses Thema weitaus mehr Fragestellungen und eröffnet im Gesamten ein überaus komplexes Geflecht, dass unsere Gesellschaft auf den verschiedensten Ebenen immer wieder berührt. Auch müssen wir es vermeiden Bauen nur aus einer spezifischen, etwas modischen, Perspektive zu betrachten. Architektur ist eine komplexe Angelegenheit, in welcher die verschiedensten Kompetenzen und Ansprüche ineinandergreifen. Auf die Architektur bezogen bedeutet dieses weiter gedachte Verständnis, die gebaute Landschaft nicht nur auf ihre Materialität zu reduzieren. Vielmehr gilt es künftig, die Notwendigkeiten rund um die Architektur zu erkennen, zu verstehen und dementsprechend im Bauwesen umzusetzen. Angesichts dieser Komplexität haben wir die Biennale inhaltlich in drei Teile aufgespalten und behandeln Ressourcen hinsichtlich der Materialität, dem konzeptuellen Umgang mit diesen oder deren soziale Rolle im Städtebau.
Uns geht es um die Funktionalität von Ressourcen. Uns geht es um die Kunst des Raumbildens und keine gut gemeinte Collage von Baumaterialien. Uns geht es um die Beziehung von Architektur und Gesellschaft.
Frau Starkova, für Sie als Ukrainerin hat der Zukunftsgedanke im Zusammenhang mit dieser Thematik noch einen ganz anderen Beigeschmack. Was bedeutet das Thema der Ressourcen für Sie?
Anhelina L. Starkova: Von einer Trilogie kann auch ich reden: denn die Idee der Zukunft, die Antizipation der Zukunft und die tatsächliche Zukunft sind sehr unterschiedliche Dinge. Seit meinem 19. Lebensjahr beschäftige ich mich mit der Architektur und habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie man auf die Zukunft als allgemeines Konzept reagieren kann. Die Zukunft ist eine Ikone im architektonischen Diskurs, dennoch findet sie nie wie in den Vorstellungen gedacht statt oder im anderen Fall ist die Architektur immer zu spät dran. Das aktuelle Geschehen in meiner Heimat – der Krieg – hat mich gelehrt, dass die wichtigste Ressource der Architekten die Kombination aus Zeit, Menschen und Austausch ist. Die unmittelbaren konstruktiven Möglichkeiten der Architektur sind befreiend und bringen uns der ökologischen Entmystifizierung der Architektur näher. Es ist sehr gut möglich, dass die Art und Weise, wie wir Architektur konstruieren, letztlich die wichtigste Ressource unseres Lebens ist.
Demnach können Ressourcen äusserst facettenreich verstanden und interpretiert werden. Welches Spektrum bieten bereits einzelne Ressourcen?
DW: Auf die komplette Bandbreite einzugehen, würde den Rahmen sprengen. Nimmt man beispielsweise Lehm als materielle Ressource, eröffnet dieser schon diverse Möglichkeiten im baulichen Umgang. So findet man im Werk des fortschrittlichen Ägyptischen Architekten Hassan Fathy traditionell anmutende Lehmziegelbauten und einen hoch intelligenten Umgang zur intelligenten Klimatisierung der Bauten im heissen Wüstenklima. Formal orientieren sich die Bauten aber an traditioneller Architektur im Norden Ägyptens und wirken aus der Zeit gefallen. Wohingegen die Werke von Glenn Murcutt in heissem Klima eine zeitgenössische Architektursprache sprechen und trotzdem mit einfachen Mitteln hoch intelligent mit dem Klima umzugehen wissen. Nicht ausser Acht zulassen sind überaus aktuelle Bautätigkeiten wie jene vom Schweizer Büro Boltshauser Architekten, die mit Lehm regelrecht in eine neue Dimension vorgedungen sind. Lehm ist hier keine Randphänomen, sondern ein ernstzunehmendes Baumaterial, mit welchem auch im urbanen Raum gebaut werden kann.
Nun gibt es verschiedene Strategien intelligenter zu bauen. Das Benutzen des lokalen Baumaterials wie Lehm aus der Baugrube ist wohl der einfachste Hebel, um den Ressourcenverbrauch zu minimieren. Dabei darf nicht nur der (Auf-)Bau beachtet werden – insbesondere muss zudem der Möglichkeit des sorgsamen Rückbaus Sorge getragen werden. Ein grosses Thema wird der effiziente Einsatz von Ressourcen sein, um Architektur zu ermöglichen. Den Verbrauch zu minimieren und den Effekt dabei zu maximieren.
Mit weniger Ressourcen zu arbeiten, macht insofern Sinn als auch weniger Fehler passieren können und dabei die Konstruktion von Architektur viel kompliziert gedacht wird, um effektiv auch auf einer Baustelle fehlerfrei ausgeführt zu werden. Bauschäden sind so vorprogrammiert und damit auch ein weiterer unnötiger Verschleiss von Ressourcen.
Welche Berührungspunkte haben Sie mit der Thematik?
DW: In meiner Tätigkeit als Architekturkritiker bin ich vornehmlich im alpinen Raum tätig, wo Ressourcen oft knapp sind und präzise eingesetzt werden müssen. Dann wird Architekur auch sozial relevant: Die Ressourcen als Funktion. Lokale Materialien, Regionalität in Zusammenhang mit dem notwendigen Knowhow bilden fundamentale Pfeiler. Blickt man auf die Geschichte in diesen Gegenden zurück, findet man einen breiten Fundus an Erfahrung und Wissen, woraus geschöpft werden kann. Ein gutes Beispiel präsentiert das Kalken der Engadinerhäuser, das immer noch in gleicher Weise angewendet werden könnte und somit zeigt, dass Vieles nicht neu erfunden werden muss. Gutes Handwerk und das Wissen über das Bauen bedingt es dennoch zwingend! Diese Kultur-wertschätzenden Prozesse sind meist jedoch ausschliesslich in privaten Projekten zu finden – und erfahren im industriellen Rahmen so gut wie keine Beachtung. Dabei entstehen gute Lösungen auch unabhängig von der Höhe des verfügbaren finanziellen Aufwands und sind vielmehr ideellen Werten zu verdanken.
Sie haben den alpinen Raum angesprochen, der sich doch stark von Estland unterscheidet. Welche Beiträge werden an der TAB zu erwarten sein?
DW: Das Thema Ökologie ist bereits lange im gesellschaftlichen Diskurs, wird in Forschung und Theorie auch schon seit längerer Zeit untersucht, ist aber leider in der Praxis eher auf Normen beschränkt und weniger in Konzepten gelebt. Daher interessiert uns für die diesjährige Ausstellung vor allem gebaute Architektur – denn ums Bauen dreht es sich letzten Endes. Zugleich wollen wir den Fokus auf Projekte richten, die Abstand zu Ballungszentren nehmen. Denn in Randregionen sind experimentellere Bauten möglich. Der Blick von den Rändern in die Zentren ist viel spannender als umgekehrt. Mit den Projekten wollen wir den Such- und Findungsprozess und den experimentellen Umgang in der Architektur zeigen und Bauweisen eine Plattform bieten, die insbesondere auf Vertrauen basieren und nicht aus Exceltabellen generiert wurde. Nur unter offenen Rahmenbedingungen kann Innovation entstehen, die richtungsweisend agiert und sich auf allen Ebenen an die bisherigen Grenzen annähert. Im Gegensatz zur Biennale in Venedig richtet sich unser Interesse somit auf aktuelles Geschehen, bietet aktiven Bautätigen eine Präsentationsfläche und lässt die Geschichte Geschichte sein.
Neben materiellen Ressourcen sind es auch die immaterielle Werte, die massgeblich mitentscheidend sind. Kann man beide Faktoren separiert betrachten?
DW: Neben diesen beiden Themen spielt zudem der Faktor Ort eine wesentliche Rolle. Dieser gibt nicht nur lokale Ressourcen hinsichtlich des Materials (welches Material ist örtlich vorhanden) vor, sondern beinhaltet klimatische Bedingungen ebenso wie handwerkliche (was können die Arbeiter) und kulturelle Traditionen (was wird erwartet), die wiederum zum Immateriellen führen. So sehr auch die Geschichte demnach von Bedeutung ist, dürfen wir jedoch gerade in Anbetracht des Klimawandels nicht in der Vergangenheit hängenbleiben. Vielmehr müssen wir uns und Altbekanntes ans somit Hier und Jetzt sowie die aktuellen Bedingungen. Gleichzeitig findet neben dieser Transformation eine Verschiebung der Klimazonen samt Traditionen statt, sodass wir uns beispielsweise künftig an Konzepten und Lösungen südlicherer Regionen bedienen können – oder wohl eher müssen. Uns interessiert der Intellekt. Welche Werkzeuge und Techniken setzen wir dann in unserer Praxis ein um keine Collage zu erhalten sondern intelligente Bauten, die auch ästhetisch etwas hergeben, städtebaulich aber auch sozial funktionieren.
Apropos Ressourcen und Kultur. Was ist denn typisch und charakteristisch für Estland?
DW: Die Frage habe ich mir des Öfteren gestellt, wenn es darum ging, lokale Souvenirs mitzubringen. Beschränkt man sich nun jedoch aufs Bauen und die Frage auf die Materialebene heruntergebrochen, ist sicherlich die Verwendung von Lehm und Holz ein gemeinsamer Nenner der estnischen Baulandschaft. Eine hohe Expertise besteht auch im Umgang mit Schilf. Das war auch in der Schweiz um 1900 noch verbreitet, doch heute vollkommen verschwunden. In Estland gibt es noch heute ein grosses Wissen, wie man mit diesem Baustoff umgegangen kann und zeitgenössische Architektur daraus entsteht. Sowohl Entwurf als auch Handwerk können mit diesem Baustoff bis intelligent umgehen. Jedoch ist das Land derart divers – landschaftlich sowie kulturell –, dass es sich nicht so einfach reduzieren lässt. Und zudem darf Tallinn nicht repräsentativ für die ganze Nation verstanden werden. Um dennoch eine möglichst authentische Auswahl an nationalen Projekten zu erhalten, haben wir diese Aufgabe an unser estnisches Mitglied des Team Jaan Kuusemets vergeben.
Welche Rolle spielt dabei die Ressource Wasser für das Land mit Küstenlinie und der Hauptstadt am Meer?
DW: Unter Anbetracht der Architektur spielt in Tallinn vielmehr der Kalkstein als das Wasser eine Rolle – wobei der Kalkstein mittlerweile als Baumaterial auch schon verschwunden ist. Doch die Lage Tallinns am Meer führte dazu, dass Tallinn Teil der Hanse war und über den Handel zu Reichtum kam. Der Grossteil des historischen Bestands wurde aus dem Mineralgestein gefertigt, sodass der Lehmbau hier eine Nebenrolle einnimmt. In Richtung Süden ist hingegen Backsteinarchitektur vermehrt zu finden. Auf dem Land aber auch in den Städten rund um den Ersten Weltkrieg sind Holzbauten sehr präsent. Noch heute ist der Holzbau ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, der auch im Export unterwegs ist. Wir haben aber auch historische Lehmbauten besucht, die bei einer einfachen ländlichen Bevölkerung als Stall genutzt wurden.
Und welchen Stellenwert nimmt die estnische Architekturlandschaft hier international betrachtet ein? Hat das Architekturverständnis national einen Wandel vollzogen?
DW: Eine Expedition ins Unbekannte beschreibt die Architekturlandschaft Estland für die Mehrheit sicherlich sehr treffend. Für den Grossteil ist das Land samt seinen Traditionen und seiner (Bau-)Kultur wie damals als Denise Scott Brown und Robert Venturi nach Las Vegas gefahren sind – eine Reise als soziales und architekonische Experiment. Wenn auch unbekannt ist die estnische Kultur dennoch sehr interessant und überaus vielfältig, was auf die unterschiedlichen Landesgrenzen und die verschiedenen kulturellen Einflüsse sowie Besetzungen zurückzuführen ist. Eine bewegte Geschichte, die vor allem den historischen Aspekt des Landes prägt und den schein der Nostalgie aufrechterhält. Dabei ist Estland viel westlicher als auf den ersten Blick vermutet und ist insbesondere in Bezug auf Digitalisierung ein Vorreiter. Auch ich selbst hatte zuvor eine sehr vage Idee von dem Land, obwohl ich den skandinavischen Raum sehr gut kenne. Aus Estland kannte ich nur die Bauten des finnischen Architekten Eliel Sarinen in Tallinn oder die estnischen Beiträge an der Biennale in Venedig. Um die Wettbewerbsfähigkeit rund um die estnische Bauindustrie und Architektur zu fördern und gegen aussen zu vermitteln, wird die Architekturvermittlung über die Biennale vorangetrieben. Gerade kleinere Länder müsen aktiv sein, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Institutionen wie das Estonian Centre for Architecture oder das Architekturmuseum müssen auf sich aufmerksam machen und international auf architektonische Themen aufmerksam machen.
Von Ungewissheit ist leider auch die Baulandschaft der Ukraine geprägt, die gezwungenermassen vor einem Neuanfang und -erfindung steht. Eröffnen sich dadurch in gewisser Weise neue Chancen, Frau Starkova?
AS: Die Ukraine ist gezwungen, von vorne zu beginnen. Sie ist jedoch auch gezwungen, mit der Vergangenheit zu kämpfen – der Krieg ist nun eine Gelegenheit, das bestehende System, den Ordnungsrahmen der Architektur und die Positionierung des architektonischen Wissens in der Gesellschaft zu stören. Wenn die Menschen mit der absoluten Zerstörung konfrontiert sind und die Bedeutung einer Stadt verstehen, wird Architektur notwendig. Eine breite soziale Bewegung könnte das Gebaute an ideologischer Architektur ersetzen und eine Nonkonformität unterstützen, die zu beispiellosen Ergebnissen führen und ltztlih die Weltarchitektur beeinflussen kann. Dennoch ist es noch viel zu früh, während eines aktiven Kriegsgeschehens von dieser Chance einer neuen Lebensweise zu sprechen.
Kulturelle Vielfalt prägt nicht nur Estland beschreibt zudem die Zusammensetzung des Kuratorenteams. Wie kam es zu dieser Gruppe?
DW: Der Ursprung unseres Teams ist in den Bündner-Bergen zu finden: Durch meine Tätigkeit an der FH Graubünden kam ich über eine Buchübersetzung mit Anhelina L. Starkova in Kontakt. Jaan Kuusemets ist unser lokaler Kontakt in Tallinn, weil es uns ein explizites Anliegen war, dass die Ausstellung einen lokalen Bezug besitzt. Eigeninitiativ – und vielleicht auch insbesondere meinem Engagement geschuldet – haben wir uns im Open Call als Kuratorenteam für die TAB 2024 beworben. Wichtig im Entscheidungsprozess war unter anderem auch, dass ich die estnische Fotografin Krista Mölder kannte und ihre Arbeit sehr schätze. Wir werden ihre Arbeit auch in die Ausstellung miteinbinden. Eine lokale Verwurzlung zu Estland war uns explizit ein Anliegen: Rückblickend betrachtet ist auch meine eigene Familiengeschichte von Aus- und Einwanderung geprägt. Und dabei gibt es auch einen Bezug ins Richtung Baltikum, auch wenn dieser mehr als 200 Jahre her ist.
Die geringe Distanz lockt hoffentlich auch viel europäisches Publikum an. Was erwartet die Besuchenden hinsichtlich des Formats der TAB?
DW: Die von uns kuratierte Ausstellung findet im Obergeschoss des Architekturmuseum statt und wird als kuratorisches Statement zu verstehen sein – ähnlich zur Biennale in Venedig die Ausstellung der Kuratoren, doch haben wir viel weniger Platz. Es werden zwar internationale Projekte zu den drei genannten Unterthemen vorgestellt, jedoch präsentieren die jeweiligen Länder keine eigene Ausstellung. Insgesamt wollen wir um die 30 vorwiegend europäische Projekte vorstellen, da unserer Meinung nach hier mehr definitiv mehr ist! Um hinsichtlich der Dreiteilung jeden Teil angemessen zur Geltung zu bringen und repräsentativ sowie grosszügig abzuhandeln, bedarf es einer entsprechenden Masse. Gleichzeitig wollen wir mit einer umfangreicheren Bandbreite von Projekten, eine sich entwickelnde Bewegung aufzeigen. Obendrein werden Nebenausstellungen als erweiterndes Rahmenprogramm tiefer die Thematik rund um Ressourcen behandeln und Platz für weitere Inhalte bieten.
Weitere Informationen zur diesjährigen TAB finden Sie hier.