Die Kunst als gesellschaftliche Initialzündung

Direkt beim St. Galler Hauptbahnhof, wo das rhythmische Rattern vorbeiziehender Züge die Luft erfüllt und das Stimmengewirr von Schülern aus der nahe gelegenen Schule das Ambiente belebt, entdeckt man das Atelier für Sonderaufgaben. In einem historischen Lagerhaus haben die Zwillinge Frank und Patrik Riklin einen einzigartigen Raum der Kunst und Reflexion erschaffen.

Die offene Eingangstür symbolisiert die Offenheit und Zugänglichkeit, die Frank und Patrik Riklin mit ihrem Atelier verkörpern wollen. Patrik Riklin empfängt mich an der Tür. Diese persönliche Begrüssung unterstreicht die Philosophie der Riklins, dass Kunst und Leben untrennbar miteinander verbunden sind und dass jeder Besucher Teil ihres kreativen Universums wird.

Im Inneren des Ateliers offenbart sich eine Welt, in der Kreativität in jeder Ecke lebendig ist. Die Atmosphäre ist geprägt von einer Mischung aus Holz, alten Büchern und urbanem Flair. Auffallend ist die Stille der Kaffeemaschine, die an diesem Tag ihren Dienst verweigert, ein kleines Detail, das die Unvorhersehbarkeit des kreativen Alltags unterstreicht.

Das Atelier selbst ist eine faszinierende Landschaft aus Kunstwerken, Entwürfen und Objekten, die Geschichten erzählen und zum Nachdenken anregen. Der zentrale lange Tisch, neben orange leuchtenden Kinosesseln, ist ein Zeugnis der Gesprächskultur der Riklins, ein Ort des Austauschs und der Inspiration. Ihr gemeinsames Pult, überladen mit Materialien und Notizen, ist Schauplatz ihrer lebhaften Diskussionen und kreativen Entwürfe.

Die Geräusche der Stadt dringen nur gedämpft in diese kreative Oase ein, wo Frank und Patrik Riklin in einer perfekten Symbiose ihrer gemeinsamen Vision Leben einhauchen. Ihre Gespräche, lebhaft und voller Energie, sind ein Tanz der Worte und Ideen, manchmal unterbrochen von einer intensiven Diskussion, die ihre Kunst und ihre Beziehung zueinander ständig weiterentwickelt.

In diesem Atelier kreieren die Riklins Kunst, die das Alltägliche hinterfragt und die Gesellschaft zur Komplizin ihres künstlerischen Wirkens macht. Ihre Arbeit ist eine Einladung, den Blick zu weiten und Teil eines kreativen und gesellschaftlichen Dialogs zu werden, in einem Raum, wo jeder Gegenstand eine Geschichte zu erzählen hat. Die erste Geschichte führt uns in den Alpstein, wo  der schöne, aber relativ unbekannte Gipfel des Kamor thront, der im Jahr 2004 durch das „kleinste Gipfeltreffen der Welt“ zu einem bedeutenden Schauplatz avancierte. Angestiftet von den Konzeptkünstlern Frank und Patrik Riklin, versammelte dieses Ereignis Dorfpräsidenten der kleinsten politischen Einheiten der Schweiz und ihrer Nachbarstaaten. Abseits des politischen Rummels, umgeben von der ruhigen Natur, zeigte sich die transformative Kraft der Kunst, die die Riklins dazu bewog, das „Atelier für Sonderaufgaben“ zu gründen und ihre visionäre Artonomie ins Leben zu rufen.

In dieser neuen Sphäre der künstlerischen Freiheit und des sozialen Experimentierens entstanden Projekte, die nicht nur die konventionellen Grenzen der Kunst sprengten, sondern auch ihre Betrachter aktiv ins Geschehen einbanden. Ein frühes Beispiel solch einer Einladung zur Perspektivänderung war das Videoprojekt, bei dem Einblicke in die Intimsphäre verschiedener Menschen in einer anonymisierten Collage präsentiert wurden, die die Privatsphäre mit der öffentlichen Darstellung kontrastierte und das Publikum zur Reflexion anregte.

Die darauffolgenden Projekte wie das „Null-Stern-Hotel“ und „BIGNIK“ sind Zeugnisse einer Kunst, die Teil des gesellschaftlichen Diskurses wird und als Katalysator für Veränderungen fungiert. Das „Null-Stern-Hotel“ in einem St. Galler Bunker und später unter freiem Himmel illustrierte eindrucksvoll, wie Kunst gesellschaftliche Konventionen hinterfragen und neue Definitionen von Luxus und Lebensqualität anstossen kann.

Ein wegweisendes Projekt in der Laufbahn der Riklins war „Fliegen retten in Deppendorf“, eine Aktion, die einen tiefgreifenden Unternehmenswandel nach sich zog. Der Bielefelder Unternehmer Hans-Dietrich Reckhaus traf auf die beiden Künstler, wollte eine Kunstaktion für eine neue Fliegenfalle. Statt den Auftrag zu lösen, konfrontierten ihn die Brüder mit der Frage: Wie viel Wert hat eine Fliege für dich als Insektenbekämpfer? In einer kreativen Kooperation entstand so ein Umdenken, das die Firma Reckhaus von einer reinen Bekämpfungsstrategie zur aktiven Förderung eines ökologischen Ausgleichs führte.

Die Riklins boten Reckhaus an, den Spiess umzudrehen und statt des Tötens das Retten von Insekten zu fokussieren, eine Idee, die anfangs absurd erscheinen mochte, aber gerade durch ihre Radikalität die Firmenphilosophie grundlegend wandelte. Das Ereignis in Deppendorf, bei dem die Dorfgemeinschaft Fliegen fing, um sie zu retten, statt zu töten, und die daraus resultierende Kampagne „Insect Respect“ zogen nicht nur mediale Aufmerksamkeit auf sich, sondern ebneten auch den Weg für einen Perspektivwechsel in der Wirtschaftsbranche.

Der Unternehmer Reckhaus nahm die Herausforderung an und setzte den Vorschlag der Riklins in die Tat um, wodurch er sein Geschäftsmodell revolutionierte. Die Einführung des Gütesiegels „Insect Respect“ stand für einen neuartigen Ansatz in der Biozidenbranche, der sowohl Insektenvernichtung als auch -schutz umfasste. Die Idee des Ausgleichs, die Reckhaus mit dem Bau von Insektenhabitaten auf dem Dach seiner Firma umsetzte, wurde durch die Zusammenarbeit mit den Riklins geboren und war Ausdruck einer gewandelten Unternehmensethik. Diese Innovation stiess in seiner Branche auf Widerstand, doch Reckhaus hielt an seiner Überzeugung fest, das Richtige für eine nachhaltige Zukunft zu tun.

Die Riklins brachten mit ihrer unkonventionellen Denkweise eine neue Perspektive in Reckhaus Geschäftsphilosophie ein, die nicht nur das Unternehmen, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung von Insektenschutz und ökologischer Verantwortung prägte. Mit dem Projekt „Fliegen retten in Deppendorf“ setzten sie einen neuen Massstab für künstlerische Interventionen in der Wirtschaft, die über reine Werbekampagnen hinausgehen und echte Veränderungen in Unternehmen anstossen.

Ihr Ansatz, konventionelle Geschäftspraktiken zu hinterfragen und radikal umzukehren, demonstriert die Kraft der Kunst, als Medium der Erneuerung und des kritischen Hinterfragens zu fungieren. Die Artonomie, als Schnittpunkt von Kunst, Wirtschaft und gesellschaftlichem Handeln, verdeutlicht das Potenzial, das entsteht, wenn verschiedene Denksysteme aufeinandertreffen und durch ihre Differenzen unübliche Handlungsfelder provozieren. Die künstlerische Arbeit der Riklins endet nicht mit der Präsentation ihrer Werke, sondern setzt Prozesse in Gang, die weit über den Moment hinausreichen. Sie zeigen, dass Kunst nicht nur reflektiert, sondern auch agiert und damit echte Transformationen in der Gesellschaft und in Unternehmen auslösen kann. Der Bewusstseinswandel, den Reckhaus durchlebte und der letztendlich sein ganzes Unternehmen umkrempelte, ist ein Zeugnis für die Wechselwirkung zwischen künstlerischer Vision und realer Unternehmensführung.

Die Kunst der Riklins steht als Vorbild für einen neuartigen Dialog zwischen den scheinbar getrennten Welten von Kunst und Wirtschaft. Sie lädt ein, den Wert von kreativen Prozessen neu zu bewerten, und öffnet den Raum für alternative, nachhaltige Unternehmensstrategien. Ihr Schaffen beweist, dass die Kunst nicht nur die Gesellschaft bereichert, sondern auch konkrete, innovative und ethische Impulse für die Wirtschaft setzt.

So bleibt die Kunst der Riklins nicht im Elfenbeinturm isoliert, sondern wird zu einem integralen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, zu einer Kunst, die nicht als solche wahrgenommen wird, aber die Gesellschaft prägt und voranbringt. Sie inspiriert, regt zum Nachdenken an und führt vor Augen, dass der wahre Wert von Kunst nicht in ihrer Fähigkeit zur Dekoration, sondern in ihrer Kapazität zur Initiation von Wandel und Erweckung liegt.

Die transformative Kunst der Riklin-Zwillinge und ihre Artonomie reflektieren sich nicht nur in ihren früheren Werken, sondern auch in der ständigen Neuinterpretation ihrer Projekte, was exemplarisch im „Null-Stern-Hotel“ veranschaulicht wird. Dieses einzigartige Konzept, das in einem ehemaligen Schweizer Atombunker seinen Anfang fand, entwickelte sich weiter und reagierte auf sozioökonomische Veränderungen, indem es in seiner neuesten Form, einer anti-idyllischen Suite ohne Dach und Wände, kritische Fragen zur Gesellschaft, zur Natur des Menschen und zu unserem Umgang mit der Umwelt stellt.

An einem unwahrscheinlichen Ort zwischen einer Tankstelle und einer Hauptstrasse errichtet, zwingt diese Suite die Gäste, über Konventionen der Hotellerie hinauszudenken und eine Reflexion über persönliche und kollektive Herausforderungen in Zeiten globaler Unsicherheiten anzustossen. Hier steht nicht der Komfort im Vordergrund, sondern die Selbstreflexion und der Diskurs über dringliche Themen wie Sicherheit, Luxus und Energieverbrauch. In einer Welt, die sich zunehmend durch Nicht-Idyllen auszeichnet, laden die Riklins zum Denken im Halbschlaf ein – ein Zustand, der sowohl Raum für persönliche Einsicht als auch für gemeinschaftlichen Austausch bietet.

Die Riklins und ihr Partner, Hotelier Daniel Charbonnier, betonen, dass der moderne Butler im „Null- Stern-Hotel“ eine zentrale Rolle spielt. Als Verkörperung der Philosophie „The only star is you“, bringt er den menschlichen Aspekt zurück ins Zentrum des Erlebnisses. Die Gäste sind eingeladen, ihre Gedanken zu hinterlassen und Teil eines grösseren Gesprächs zu werden, das zu lokalem Handeln und gesellschaftlichem Wandel führen kann.

Dieses innovative Hotelkonzept illustriert, wie die Riklins durch ihre künstlerischen Interventionen die Grenzen zwischen Kunst, Gesellschaft und Ökonomie verwischen und dabei konventionelle Geschäftsmodelle und Lebensweisen herausfordern. Ihr Schaffen bleibt ein aktives und lebendiges Beispiel für die Möglichkeit, durch Kunst nicht nur das Bewusstsein zu schärfen, sondern auch direkte und praktische Auswirkungen auf die Gesellschaft zu erzielen.

Atelier für Sonderaufgaben: Wo kunstvolle Interventionen den Alltag transformieren und die Gesellschaft selbst zum lebendigen Kunstwerk wird.

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