Matyas Sagi-Kiss (Wirtschaftsjurist FH, Vorstand von Pro Infirmis Schweiz) wohnt im Zollhaus der Genossenschaft Kalkbreite in Zürich, lebt seit Geburt mit Cerebral Parese und fährt eine Elektro Rollstuhl. In dieser 6-teilige Kolumne lädt er zu einem Perspektivenwechsel ein.
Wer wie ich mit Behinderung lebt, erfährt Architektur und Städteplanung mit anderen Augen. Umgekehrt werden wir durch unsere bauliche Umwelt aber auch anders empfangen. Eine Willkommenskultur gegenüber Menschen mit Behinderung ist ein neues Phänomen, wenn wir in die Architekturgeschichte zurückblicken. Früher wurden, wenn überhaupt, gerade mal Bauten von Krankenhäusern und Altersheimen auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung hin ausgerichtet. Wenn ich heute an ein bauliches Hindernis gelange oder die einzige barrierefreie Toilette z. B. auf einer Sportanlage – weil sie etwas geräumiger ist – mal wieder durch jemanden besetzt ist, der auch eine der anderen Toiletten benutzen könnte, höre ich häufig den Satz: „Mit Ihnen habe ich hier gar nicht gerechnet.“ Natürlich ist es logisch, dass man dort auf Personen im Rollstuhl trifft, wo eine entsprechende Toilette vorhanden ist, aber das wäre wohl der Umsicht zu viel.
Meist lächle ich solche merkwürdigen Sprüche weg, aber manchmal, da platzt eben nicht nur die Fassungsgrenze der Blase, sondern auch die Geduld. So erging es mir kürzlich auf dem Spaziergang bzw. der Spazierfahrt mit meiner Assistenzhündin Ginger. Die öffentlichen Toiletten im Park waren grossteils frei, das hindernisfreie WC hingegen war wie so oft ewig besetzt. Beim Verlassen des WC kam es dann wie immer zu einer worthülsenreichen Entschuldigung dafür, dass die betreffende Person das rollstuhlkompatible WC ohne Not besetzt hatte, und sie fügte rechtfertigend hinzu, dass sie ja nicht mit mir habe rechnen können… Entnervt und im eigenen Urin sitzend, habe ich mir dann die Gegenfrage erlaubt: „Wo rechnen Sie denn mit mir, wenn nicht hier, etwa im Kuriositätenkabinett?“
Jeder Mensch wohnt, arbeitet und geht seinen Hobbys nach, Architektur ist dabei zentral. Denn kaum jemand tut dies primär unter freiem Himmel. Wir verbringen einen Grossteil unserer Zeit auf Erden in von Menschen gestalteten Gebäuden. Architektur ist ebenso vielfältig wie die Menschheit und ihre Bedürfnisse. Es muss nicht jedes Gebäude über einen Konzertsaal oder eine für Kunstsammlungen geeignete Galerie verfügen. Wohl aber sollte niemand per Definition durch Architektur ausgeschlossen werden.
Auch wir Menschen mit Behinderung arbeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt und nicht ausschliesslich in speziell für sie bestimmten Räumlichkeiten und oh wunder, wir wohnen auch nicht alle im Heim, sondern sind am liebsten Teil der Gesellschaft. Teilhabe darf nicht als Gnadenakt oder im Falle von Architektur als Fessel der Kreativität verstanden werden, sie hilft uns allen.
Das Feld an verschiedensten Behinderungen ist gross. Es gibt, Seh- und Hörbehinderungen, kognitive Behinderungen, psychische Behinderungen und die verschiedensten Arten von Mobilitätsbehinderungen. Häufig wird vergessen, dass auch ältere Menschen zur Gruppe von Menschen mit Behinderung gehören und eine hindernisfreie bauliche Umwelt selbst für jene qualitativ angenehmer ist, die sich nicht mit der Herausforderung einer Behinderung anfreunden müssen. In diesem Sinne, bitte ich darum, die Idee, dass eine hindernisfreie Architektur eine Art Extrawurst für uns Menschen mit Behinderung sei, ein für alle Mal zu begraben. Sie ist vielmehr ein zwingender Schritt zu gleichberechtigter Teilhabe am Leben als Ganzes und dient zudem uns allen. Ich freue mich darauf, Ihnen in Zukunft mehr aus meinen alltäglichen Erfahrungen mit unserer baulichen Umwelt berichten zu können, und freue mich darauf, Sie auf die Reise hin zum Perspektivenwechsel mitnehmen zu dürfen.