Kolumnistin Brigitta Schild meldet sich in jeder Ausgabe mit einem Brief bei einem Protagonisten der Architekturgeschichte. In der Ausgabe 02/2019 schreibt sie Italo Calvino, dem Autor des berühmten Buches “Die unsichtbaren Städte”.
Lieber Italo,
Entschuldige bitte! Ich hätte dir längst schreiben sollen!
Wies unseren Städten im Norden gehe, hast du gefragt. Insgesamt ganz gut, glaube ich. Wir orientieren uns etwas weniger am Autoverkehr, entdecken zeitweise sogar die Langsamkeit – auch wenn die Velos immer schneller werden – und wir pflegen vermehrt das südliche Flair auf Strassen und Plätzen. Ganze Quartiere sind umstrukturiert und aufgewertet worden. Die Kehrseite: Du brauchst Glück mit dem Vermieter oder eine neue Stelle. Die altbekannte Geschichte. Lassen wir sie!
Jetzt ist der Moment, um mich mal endlich für deine „Unsichtbaren Städte“ zu bedanken! Ein tolles Buch! In deinen poetischen Bildern kultivierst du die ewige Sehnsucht nach der Stadt und öffnest dabei den Blick auf die Welt. Das hat schon Marco Polo erkannt. Dank deinem Roman hat er dem Mongolenherrscher Kublai Khan mehr vom Wesen der Städte erzählt, als ein World-Wide-Web-Surfer sich heute zusammensuchen kann.
Erst neulich habe ich das Buch wieder herausgesucht; habe Literatur gebraucht nach all den Analysen und teilweise verstörenden Stadteinblicken im Film „The Human Scale“ des Dänen Andreas M. Dalsgaard. Die Dokumentation wurde im Rahmen der Ausstellung „Social Design“ gezeigt – war übrigens eine spannende Veranstaltung.
In fünf Kapiteln stellt Dalsgaard darin Grossstädte vor, in denen versucht wird, den Menschen und seine Bedürfnisse und nicht sein privates Auto ins Zentrum der Planung zu stellen. Die Massnahmen basieren auf den Studien des Architekten und Stadtplaners Jan Gehl, der das Verhalten und die Bedürfnisse der Leute in der Stadt über vierzig Jahre lang untersucht hat.
Das geht ganz gut – bis zum Kapitel vier. Da gehts dann um Dhaka, Bangladesh. Nein, nicht um einzelne Bauten und Projekte, auch nicht um Architekturgeschichte, sondern um die erbarmungslose Riesenstadt als räumliches und soziales Gefüge.
Du erinnerst dich sicher noch an das Venedig Asiens! An das stolze Dhaka mit den öffentlichen Pärken und dem raffinierten Kanalsystem im Mündungsgebiet des Ganges und den beiden anderen Flüssen Sadarghat und Buriganga. Das war einmal! Heute ist Schluss mit diesem Städtevergleich – es sei denn, man will sich La Serenissima zugemüllt vorstellen! Dhakas Wasserwege sind mit Schutt aufgefüllt oder zugemüllt, die Flüsse vergiftet, und auf den Sümpfen wird täglich emsig illegal weitergebaut…
Dhaka ist der Moloch, der weltweit am schnellsten wächst. Die Menschen, die ihm mit Geld nicht die Stirn bieten können, verschlingt er erbarmungslos. Und das sind nahezu 40 Prozent der Bewohner. Täglich strömen Tausende auf der Suche nach Arbeit in die Stadt. Oft mit nichts ausser den Kleidern am Leib. Sie schlafen auf Gehsteigen, auf Müll- und Schutthalden, neben Bahngleisen und in elenden Hütten, irgendwo in einem Slum. Vergessen und ignoriert von der wachsenden Mittel- und Oberschicht. Städtische Infrastruktur kennen sie nicht. Sie sind illegal und darum den Slumlords und der staatlichen Willkür rechtlos ausgeliefert.
Das ist bekannt, ich weiss. Die Bilder tauchen auf, wenn wieder eine dieser unsäglichen Textilfabriken einstürzt, brennt oder wenn, wie letzte Woche, Chemikalien mitten in der Stadt explodieren und Menschen sterben. Dann, für einen kurzen Moment, schreit uns das Elend aus der Ferne an. „Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert“ – wie recht Aldous Huxley doch hatte!
Aber jetzt, genug davon! Themawechsel. Wann kommst du wieder mal zu Besuch? Weisst du, dass ich mein Auto verkauft habe? Jetzt gehe ich zu Fuss zur Arbeit. Das tut gut. Ein bisschen durchatmen, mich an den Pflanzen erfreuen, bevor das Büro mir die Aussicht nimmt. Ich weiss noch gut, wie du dich über die akkurat gemähten Grasrabatten rund um die Bäume amüsiert hast. Die sind inzwischen weg! Dem Guerilla-
gärtner Maurice Maggi sei Dank! Noch ist allerdings nichts zu sehen. Aber die Wildpflanzen beginnen den Boden langsam zu knacken, und wenn sie dann in allen Farben blühen: Herrlich!
Komm doch mal im Sommer, und schau Dir die Stadt im Norden an. In Castiglione della Pescaia ist es dann eh zu heiss, und die Touristenströme magst du doch sowieso nicht! Oder? Also – bis dann?
Herzlich,
Brigitta