Bellinzona

Dr. Urs Wiederkehr ist Bauingenieur und Verantwortlicher für Digitale Prozesse in der Geschäftsstelle des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA). Für diese achtteilige Kolumne aus Anlass der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels besucht er 2020 diverse Orte im Städtedreieck Bellinzona-Lugano-Locarno.

Bellinzona, die verkannte Hauptstadt des Tessins
Der 40 m hohe Felsrücken aus Gneis im Sopraceneri ist seit über 4000 Jahren bewohnt. Er bietet Schutz vor Überschwemmungen des bisweilen reissenden Flusses Ticino. Zudem nutzt die unterste der drei Burgen von Bellinzona dessen strategischen Vorteil: Denn durch den erhöhten Sitz des Felsens lässt sich der Nord-Süd-Alpenverkehr Richtung Lombardei und Piemont – auch über den Monte-Ceneri-Pass – kontrollieren. Kein Wunder, dass sich die Herzöge von Mailand, die Eidgenossen und die Franzosen regelmässig um den Besitz der Stadt gestritten haben. Darum sind die drei Burgen Castello Grande, Montebello und Sasso di Corbaro mit imposanten Verbindungsmauern entstanden. Seit zwanzig Jahren gehören sie zu den Unesco-Stätten des Weltkulturerbes. Diese Würdigung hat zusammen mit der Alpentransit-Funktion als Porta del Ticino der Stadt Bellinzona viele Impulse gegeben: Mehr Leben, neue Veranstaltungen oder die grosse Eingemeindung der Agglomerationen im Jahr 2017 sind nur ein paar Stichworte dazu. Auch bauliche Massnahmen werten das Stadtbild auf: Eben sind das neue Stationsgebäude und der Busbahnhof eröffnet worden, und das letzte unwirtliche Haus am Bahnhofsplatz wird endlich renoviert. Auf einer Tafel davor läuft der Countdown bis zur Eröffnung des Ceneri-Basistunnels.

Bellinzona ist übersichtlich. Vom Bahnhof führt die Viale Stazione hinunter zum Hauptplatz, der Piazza Collegiata, mit vielen sehenswerten Fassaden. Von der Stiftskirche ist es nicht weit zur Piazza di Nosetto mit dem Stadthaus, das viel jünger ist, als es scheint. Den Abschluss bildet die Piazza Indipendenza mit dem Obelisken zum hundertsten Jahrestag des Tessiner Beitritts zur Eidgenossenschaft. Von der Piazza di Nosetto führt eine Abzweigung zum aufgehobenen Ursulinenkloster an der Piazza Governo, dem Regierungssitz des Kantons. In der Nähe steht das niedliche Teatro Sociale im italienischen Stil. Das Bundesstrafgericht hat seine Heimat in einer ehemaligen Handelsschule gefunden. Von der Piazza Collegiata führt die Via Codeborgo zurück zur Piazza del Sole. Die Galleria dei Benedettini, welche eine Verbindung zur Viale Stazione schafft, besteht interessanterweise aus dem Schiff einer ehemaligen Kirche. Von der Piazza del Sole, wo die Migros in einem Schalentragwerk von Heinz Isler auffällt, führt der Lift zum Castello Grande. Die Stadtmauer, die Murata, führt hinunter zum Ticino. Stellenweise kann die Mauer auch von innen begangen werden.

Etwas ausserhalb der Altstadt, in Richtung des heutigen Stadtquartiers Giubiasco, befinden sich die Kirche San Biagio mit einem monumentalen Aussenfresco des heiligen Christophorus und das Franziskanerkloster Santa Maria delle Grazie mit 16 Szenen aus dem Leben von Jesus.

Nicht nur am samstäglichen Markt in der Altstadt, der nicht für die Touristen gestellt ist, zeigt sich Bellinzona als Ort des Lebens. Regelmässig finden viel beachtete Veranstaltungen statt, wie beispielsweise „la spada nella rocca“, wo auf den Burgen Szenen aus dem Mittelalter nachgestellt werden. Jedes Jahr zur Fasnachtszeit, dem Rabadán (Dialekt für Lärm, Radau), übergibt der Stadtpräsident die Schlüssel zur Stadt seiner Majestät, dem König Rabadán, der die „settimana grassa“ (fette Woche) einläutet. Daran nehmen über 150 000 Besucherinnen und Besucher teil. Vermutlich wird König Rabadán auch dieses Jahr die Schlüssel nach einer Woche wieder zurückgeben.

Text: Urs Wiederkehr

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