Dreizehn mächtige Viertausender, scheinbar greifbare Gletscher und stahlblauer Himmel prägen das bekannte Bild der Gemeinde Saas-Fee. Die „Perle der Alpen“, wie der Ort auch genannt wird, bildet am Fusse der Mischabelkette auf 1800 m. ü. M. den westlichen Abschluss des Saastalgrunds und bezaubert zudem mit ihrer traditionellen Bauweise. Denn abgerundet wird das stereotypische Bild der dortigen alpinen Idylle von den unzähligen sonnengebräunten Stadeln: Der Garben- oder Getreidespeicher ist dabei wahrscheinlich das typischste Gebäude im Wallis. Einen dieser leer stehenden „Raccards“ hat der Architekt Oliver Christen umgebaut und zu einem Wohnhaus mit unverkennbaren Raumqualitäten gewandelt.
Viele Namen, aber dafür eine eindeutige Architektur: Z’Chlei Stadelti, wie die Walliser den kleinen Stadel, den Raccard oder auch Garbenspeicher nennen, ist geprägt durch den auf Pfählen gebauten Lagerraum, um das wertvolle Korn vor gefrässigen Nagetieren zu schützen, und wurde zum Aushängeschild der Walliser Baukultur. Doch neben dieser baulichen Massnahme ist die horizontale Dreiteiligkeit des Agrarbaus eines seiner wesentlichsten Merkmale, die sich durch die differenzierte Materialität optisch sofort ausmachen lässt. Auf einem steinernen Sockelgeschoss, das in diesem Fall als Schlachterei genutzt wurde, thront zuoberst ein aufgestützter Holzspeicher, der vor allem als Getreidelager diente. Dazwischen bilden meist gedrungene Steinsäulen mit der sogenannten Mausplatte einen leeren, offenen Raum aus, der zugleich eine schattige – jedoch bisher ungenutzte – Zwischenebene eröffnet. Als Inspirationsquelle hat der Architekt Oliver Christen diese offensichtlichen architektonischen Merkmale und bautypischen Besonderheiten bewusst beibehalten und gleichzeitig feinfühlig ins Hier und Jetzt interpretiert – wobei sich die alten und neuen Elemente bewusst kontrastieren.
Planungssache
Bereits zum zweiten Mal vertraute dieselbe private Bauherrschaft dem Badener Architekten ein Projekt an: Als Direktauftrag durfte er die Umnutzung des traditionellen Baus von 1888 samt einem kleinen ostseitigen Waschhaus im Saastal durchführen und tauchte für dieses Vorhaben in die traditionelle Baukultur des Wallis ein. Doch neben den offensichtlichen Herausforderungen, die sowohl durch die Bedingungen des Denkmalschutzes als auch den Umgang mit der bestehenden Bausubstanz einhergingen, stellten hier insbesondere die Logistik während der Bauarbeiten sowie die begrenzten räumlichen Gegebenheiten der Bauparzelle zusätzliche fordernde Faktoren dar. Anforderungen und Konditionen, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit der lokalen Baukultur sowie eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten erforderten, die dem Projekt inmitten Saas-Fees letztlich zusätzliche Qualitäten verliehen. So zieht sich die Handarbeit als roter Faden durch das gesamte Projekt und nahm dabei einen Grossteil der intensiven Arbeitsstunden in Anspruch: Da die Walliser Gemeinde autofrei ist, wurde beispielsweise der Zement vor Ort gemischt, die Aushubarbeiten grösstenteils per Hand erledigt sowie beinahe ohne Hilfe eines Kran am Rohbau gearbeitet. Dies – genauso wie das Arbeiten mit traditioneller Bausubstanz an sich – erforderte vorab ein genaues Ausmessen des Bestands sowie eine exakte und durchdachte Planung der Logistik und der einzelnen Bauteile. Letztere mussten teilweise über die Fenster oder bereits bestehende Öffnungen ins Innere gelupft werden, da dies platztechnisch über die innere Erschliessung nicht immer gewährleistet werden konnte.
Neu interpretiert
Doch abseits der organisatorischen und baurechtlichen Rahmenbedingungen machte vor allem die spezielle Architektursprache mit ihrer horizontale Stapelung und Aufteilung des Gebäudes die Besonderheit der Umnutzung aus. Denn das offensichtliche Charakteristikum der Garbenspeicher – seine dreiteilige Geschossstapelung – wurde beibehalten, bewusst betont und zuletzt auch in die Organisation des Raumprogramms miteinbezogen. Dabei wurde die äussere Erscheinung des kleinen Stadels nicht nur in ihrer Aufteilung, sondern auch hinsichtlich der Materialisierung bewahrt: Hierfür wurde die Holzfassade zuerst mit Seilwinden gerade gezogen, danach mit Lärchenholz ergänzt und ausgebessert, der Dachstuhl aus Fichtenholz erneuert, das Dach gleichzeitig mit dem traditionell schlanken Rand gesäumt und zu guter Letzt mit frei verlegten Steinplatten abgedichtet. Selbst im Detail wurde man den baukulturellen Gepflogenheiten gerecht: Anstelle der heute bekannten, ornamentreichen Brüstungen setzen hier schlichte Rundstäbe einen deutlichen Kontrast und greifen die traditionelle Formensprache wieder auf. Zudem lenken die neuen, unbearbeiteten Holzelemente farblich die Aufmerksamkeit auf sich, die bewusst naturbelassen mit ihrer noch hellen Farbgebung sich von der bereits dunklen, sonnengegerbten Bausubstanz abheben. Darüber hinaus wurden selbst die charakteristischen Steinstützen samt Mausplatte für die unverkennbare Architektursprache des Speichers erhalten. Jedoch wurden diese neu gestaltet, indem sie mittels eigener, handgefertigter Schalung vor Ort betoniert wurden, und führen in selber Optik, aber neuer Materialität die baukulturelle Geschichte des ehemaligen Agrarbaus weiter. Neu und dennoch alt: In all diesen Details zeigt sich der feinfühlige Umgang mit der Substanz, der die traditionellen Pendants als Inspiration aufnimmt, in die Gegenwart transferiert und diese Additive letztlich mit absoluter Selbstverständlichkeit und Souveränität zeigt.
Solides Fundament
Sicher und souverän wirkt auch das massive Untergeschoss, das für mehr Nutzfläche um 1,20 m abgegraben wurde und somit ein zusätzliches Zwischengeschoss im Garbenspeicher erlaubte. Erneut wird das Wechselspiel zwischen alten und neuen Komponenten auch im Sockelgeschoss aufgegriffen: Der Putz des Mauerwerks, sogenannter Rasa Pietra, wurde belassen, jedoch mit einer gewissen modernen Note aufgewertet. Folglich verteilt sich der Verputz auslaufend über den Steinköpfen des unregelmässigen Mauerwerks, was auf überschüssigen Mauer- oder Setzmörtel der Stoss- und Lagerfugen zurückzuführen ist. Einen Kontrast dazu formt der sauber und gleichmässig betonierte Kranz, der umlaufend die bestehende Steinmauer einsäumt und die erneuerten Betonausfachungen im Sockelgeschoss ausbildet, die ihrer ursprünglichen Grösse entsprechen. Somit wird auch hier die Unterscheidung zwischen Alt und Neu mehr als deutlich gezeigt – und erst gar nicht zu verschleiern versucht.
Weniger ist mehr
Gleichzeitig mit den erneuerten Ausfachungen wurde der Eingang des umgenutzten Stadels ins Untergeschoss verlegt und legt neben dem Zugang eine einmalige Kombination zwischen der bestehenden Substanz und den neu eingefügten Architekturelementen dar. So trifft im Entree die raue, grossteils unverputzte Bestandswand auf exakt adaptierte Einbauten aus Fichtenholz, die sich mit enormer Sorgfalt an die Unebenheiten der Steinmauer anpassen. Dabei wird gleichzeitig durch die dunkle Farbgebung, die Kombination roher Materialien und die Reduktion des Innenraums, dessen reine Geometrie und Kompaktheit betont. Dunkelgrauer Hartsteinholzboden – ein mit Holzfasern angereicherter Zementboden –, eine beinahe schwarze Holzwand gegenüber der Haustür, eine minimale Raumhöhe, eine naturbelassene Holzdecke sowie der Verzicht auf jegliche Regale und zusätzliches Mobiliar setzen die Kubatur des gediegenen Raums in den Fokus. Um trotz der geringen Gesamtnutzfläche von etwa 68 m2 und der bewussten Minimierung additiven Mobiliars dennoch genug Stauraum zu garantieren, wurden alle Wände bestmöglich optimiert. Demnach wurden Wandschränke smart in die Zwischenwände integriert und ausreichend Abstellraum in den versteckten Einbauschränken garantiert, sodass von den Ski bis hin zur Waschmaschine alles vollständig aus dem Raum verschwinden. Auf das Wesentliche beschränkt sich auch die Ausstattung der beiden Schlafzimmer im Sockelgeschoss: Inspiriert von Berghütten, wurde das 5 m2 grosse Gästezimmer lediglich mit einem Stockbett ausgestattet und das Hauptschlafzimmer mehr oder weniger als raumfüllende Schlaflandschaft realisiert, die mit integrierten Schubladen weiteren Stauraum zur Verfügung stellt. Dieses puristische und funktionale Gestaltungskonzept wird auch in beiden voll ausgestatteten Badezimmern fortgeführt, die trotz der geringen Geschossfläche erstaunlicherweise im Sockelgeschoss Platz finden. So sind sowohl das Gästebad im Eingangsbereich als auch das En-suite-Bad des leicht hinabversetzten Elternschlafzimmers auf das Wesentliche reduziert und mit dunkelgrünen Fliesen sowie weissen Armaturen farblich dezent gestaltet.
Geschickt verstrickt
Apropos Platzwunder: Geschickt verschachtelt, fügt sich neuerdings ein Zwischengeschoss in die historische Bausubstanz des Garbenspeichers ein, das von aussen erst auf den zweiten Blick ersichtlich wird. Dort, wo einst der leere, schattige Zwischenraum gefrässigen Nagern den Weg zum Getreidelager verwehrte, findet die Küche samt Esszimmer ihren Platz. Möglich machen dies die durchdachte Verschachtelung und der clevere Umgang mit den diversen Raumniveaus, die an das Konzept des Raumplans von Adolf Loos erinnern. Durch die Verwendung kleiner Treppen bekommen einzelne Räume verschiedene Höhen im Gesamtraum, wodurch die dreidimensionale Denkweise des gesamten Entwurfs zum Ausdruck kommt – die Deckenhöhen des jeweiligen Geschosses bleiben dabei in sich gleich. Zudem lassen sich Parallelen zum minimalistischen Konzept des Wiener Architekten herstellen, das sich sowohl auf Formen als auch auf Farben und Materialien bezieht. Während das neue Zwischengeschoss einerseits zusätzliche Nutzfläche eröffnet, erlaubt diese andererseits ein völlig neues Raumgefühl sowie Blickbeziehungen und bringt darüber hinaus das Material Glas ins Spiel. Dabei verstecken sich die schwarzen Rahmen des umlaufenden Fensterbandes hinter den betonierten Stützen und die Einrichtung sich unterhalb der Fensterbrüstung, sodass sich das neu integrierte Geschoss überaus unauffällig verhält. Erst durch Beleuchtung im inneren – und dann vor allem abends – erstrahlt der ehemalige Schattenraum zu neuem Leben, während von Innen das Geschehen im Strassenraum aus einer einmaligen Perspektive ungeniert beobachtet werden kann. Auch in der Küche wurde die Einrichtung auf das Wesentlichste reduziert: Eine dunkle Küchenzeile aus Holz wird von einer hellen Kunststeinplatte abgedeckt und präsentiert mit einem neuen, länglichen Holztisch das gesamte Mobiliar. Rückseitig zur Treppe wurde zusätzlich eine Sitzbank eingebaut, die gleichzeitig als Stauraum für Küchenutensilien oder Hausrat fungiert. Für diese einmalige Atmosphäre war hier vor allem die exakte Planung – von der Einrichtung bis hin zur Logistik – ein wesentliches Thema: Da die Küchenzeile nur über das Küchenfenster im Bereich der Betonpfähle ins Innere transportiert werden konnte, musste deren Dimensionierung exakt eingehalten und miteingerechnet werden und erforderte zudem enorme Muskelkraft bei der Anlieferung.
Hoch hinaus
Grosszügiger zeigt sich hingegen das oberste Geschoss: Über der in der Höhe knapp bemessenen Küche eröffnet sich im ehemaligen Speicher ein luftiger Wohnbereich, der sich bis zum Giebel erstreckt. Zur Hälfte nimmt als eine Art Galerie hier noch ein kleines Schlaflager den Luftraum ein und generiert dabei zusätzliche Wohnfläche und einen privateren Rückzugsort. Über eine simple Metallleiter ist dieses Lager erreichbar, das über ein Bullauge die Verbindung zum Wohnzimmer behält und seiner Formensprachen gewissermasen das Bild eines Speichers in neuer Interpretation aufnimmt. Im Gegensatz zu den beiden unteren Geschosse, die von Massivität, unverputzten Steinmauern und dunklen Farbtönen geprägt sind, versprüht die helle Holzverkleidung im obersten Geschoss einen angenehmen Duft und verleiht dem Raum eine warme Atmosphäre sowie Leichtigkeit. Um das Gesamtbild abzurunden, wurde hierfür sogar eigens ein Parkett aus Dreischichtplatte entwickelt, das einen Kontrast zu dem dunklen Hartsteinholzboden im Parterre bildet und die grosszügigere Wirkung des Wohnbereiches unterstreicht.
Alte Hülle, neuer Kern
Im Wechselspiel von Alt und Neu darf dabei das Neue nicht zu kurz kommen. Denn neben den Themen wie Baukultur, Denkmalpflege und historische Bausubstanz gilt es, den aktuellen Ansprüche an Technik und Sicherheit gerecht zu werden. Eine der Herausforderungen stellte diesbezüglich die markante Dreischichtigkeit des Gebäudes dar, die jegliche vertikalen Verbindung ausspart und folglich die geforderte Erdbebensicherheit bisher nicht garantierte. Gelöst wurde diese Problematik durch einbetonierte Stahlträger im Bereich der Verbindung des Sockelgeschosses mit dem hölzernen Stadel. Vertikal verbindet zudem eine neu ausgebildete lineare Wand, die sich angrenzend an die innere Erschliessung zieht, alle Geschosse. Gleichzeitig nimmt dieses vertikale Element die Raumtrennung, die Absturzsicherung, die Steigzone sowie die Verteilung der gesamten Gebäudetechnik auf und ist dabei mit dem aussen liegenden Technikraum im nebenstehenden Reduit verbunden – eine planerische und handwerkliche Höchstleistung innerhalb einer 80 mm Wandstärke. Ein weiteres herausragendes Detail stellt bezüglich Haustechnik die Bodenheizung dar, die im Wohnzimmer beispielsweise bei einem Trockenbodenaufbau (inkl. Holzdielen) von lediglich 68 mm realisiert und integriert werden konnte.
Wahre Grösse
Ob als Raumwunder, mit seinen technischen Detaillösungen oder seiner architektonischen Gestaltung hält die Umnutzung des ehemaligen Garbenspeichers Überraschungen in vielerlei Hinsicht bereit. So setzt der umgenutzte Agrarbau nicht nur Kontraste zwischen alten und neuen Elementen und hebt sich durch seine durchwegs konstruktive Ehrlichkeit vom Grossteil anderer Wohnbauten ab, sondern präsentiert gleichzeitig eine umgedrehte Dramaturgie in der Raumanordnung. Während sich die privaten Räumlichkeiten eher unüblich im Untergeschoss und somit im Eingangsbereich befinden, stapeln sich die Gemeinschaftsräume geschossweise darüber – eine verdrehte Abfolge, die dem Charakter der Bauherrschaft zu verdanken ist. Als für „Küchenmenschen“ entwickelte sich der Grundriss um den Essbereich, der sich im Zentrum des Gebäudes befindet und den besonderen Ort im Haus darstellt. Mit der Positionierung im vorherigen Schattenraum und dem jetzigen neuen Zwischengeschoss erlaubt die Küche als Umschlagpunkt der Familie zudem noch einzigartige Perspektiven und verzaubert mit einem völlig neuen Raumgefühl – sowohl architektonisch als auch atmosphärisch steht die Küche letztlich im Zentrum. Doch um all diese Massnahmen umsetzen zu können, einen feinfühligen Umgang mit dem Bestand und eine respektvolle Transformation des historischen Gebäudes ins Hier und Jetzt sowie das richtige Weitererzählen der Geschichte gewährleisten zu können, war eine genaue Auseinandersetzung mit dem „Chlei Stadelti“ notwendig. Vom Aufmessen der Balken bis hin zur Interpretation einzelner Architekturelemente floss die Baukultur ein, sodass sich die vermeintlich kleine Bauaufgabe hin zu einer grossen Forschungsarbeit wandelte. Und wahre Grösse kommt dabei meist von innen – oder zeigt sich in diesem Beispiel auch durch bewussten Verzicht. Gemeinsam mit einer stringenten Materialehrlichkeit sowie einer durchdachten Raumordnung wurde mit dem Vorhaben eine prominente Perle inmitten der Alpen geschaffen. Eine, deren Prominenz sich nun analog zu jener der umliegenden Viertausender als eigenständige Solistin unter dem historischen Bestand verhält.
©Rasmus Norlander