Transformation einer Kletterhalle zum Wohnhaus im Zentrum von Interlaken. Die dafür eingesetzte Holzarchitektur zeigt exemplarisch auf, wie nachhaltige Gebäude auch im urbanen Raum möglich sind. Mit grosser Selbstverständlichkeit verbinden und verdichten sich das Vorhandene und das Neue.
Umgebaut, aufgestockt. Dort, wo bis vor kurzem Magnesiasack, Schraubkarabiner, Klettergurt den Raum beherrschten, ist vielfältiges und insbesondere kostengünstiges Mietwohnen entstanden. Während das Ladengeschoss erhalten blieb, wurde die darüberliegende Kletterhalle als „leeres Volumen“ rückgebaut. L2A Architekten (mit Büro in Unterseen) haben im Zentrum von Interlaken diese spezielle Umnutzung mittels Ersatzneubau in Holzbauweise und unterschiedlich gelayouteten Stadtwohnungen verwirklicht. An exponierter Lage mit Platzanschluss passt sich das neue Gefüge harmonisch ein und besetzt mit seiner Holzarchitektur zugleich den Eckpunkt zweier vorhandenen Häuserzeilen. Das Volumen wirkt als markanter Baustein mit Strahlkraft und bedeutet einen Mehrwert für diesen städtischen Ort.
Interlaken liegt zwischen dem türkisen Brienzersee und dem tiefblauen Thunersee. Im Hintergrund schimmert die imposante Bergwelt mit Eiger, Mönch und Jungfrau. „Erlebe die Schweiz an einem Ort“, so der Slogan, mit dem um Feriengäste geworben wird. Die Gemeinde, die einen Verkehrsknoten am Nordrand der Berner Alpen und eine bedeutende Destination und Durchgangsstation für den Reiseverkehr bildet, hat Einiges an historisch bedeutsamer Stadtsubstanz zu bieten. Allem voran die eindrückliche Klosteranlage, einst ein Bethaus aus Holz, aus dem das Augustinerkloster hervorging.
Holz – der natürliche Werkstoff – hat einen wesentlichen baugeschichtlichen Stellenwert im Berner Oberland. Heimelige Chalets in den Bergen oder Ställe für die Landwirtschaft – Holzbauten prägen die ländlichen Gegenden bis heute. Im mittlerweile geschlossenen Siedlungsgebiet von Interlaken, das sich aus dem früheren Marktort Aarmühle auf der linken Aareseite, dem einst mächtigen Kloster, dem ehemaligen Bauerndorf Matten sowie dem Städtchen Unterseen entwickelt hat, wurden jedoch die Holzhäuser durch Hotelpaläste und Stadthäuser um 1900 abgelöst. Einzig der Schweizer Holzhausstil konnte sich noch halten. Der Hauptbaubestand von Interlaken stammt aus sehr verschiedenen Epochen und weist dementsprechend die unterschiedlichsten Baustile auf.
Das Geschäftszentrum, das sich aus dörflichen Strukturen heraus entwickelt hat, besteht aus Hotelbauten unterschiedlicher Grösse und Ausgestaltung, aus Geschäftshäusern sowie aus älteren, in die städtische Bebauung eingebundene Satteldachbauten im Chaletstil. An der Jungfraustrasse, an der sich auch das neue Wohnhaus verortet, haben sich zusammenhängende neoklassizistische Häuserfronten erhalten. Zu erwähnen ist auch das gegenüberliegende, 1909 gebaute Wohn- und Geschäftshaus Urania, das dank seiner farbigen Jugendstil-Fassade einen besonderen Blickfang und gewissermassen mit dem neuen Wohnhaus ein einzigartiges als auch eigensinniges Gebäudeensemble bietet.
Der Neubau fügt sich durch seine architektonische Ausformulierung eigenständig und zugleich massstäblich in den Stadtkörper ein. Zwischen dem ehemaligen Hotel National und dem Wohn- und-Geschäftshaus Centralstrasse, das im Mai 1999 von einem Grossbrand zerstört worden war, definiert er prägnant die Blockrand-Ecke. Ein architektonisches Gebilde, das auf die vielfältigen Anforderungen des Ortes eingeht und einen identitätsstiftenden Baustein des Areals bildet. Der dem Neubau anliegende Ammann-Hofer-Platz betont die prominente Lage im örtlichen Zentrum, womit zusätzlich eine eindeutige Adresse entsteht.
Wie selbstverständlich erscheint das neue Gebäude. Als wäre es schon immer dagewesen – möglich, weil es sich von der ersetzten Kletterhalle in seinem Volumen nur minim unterscheidet. Doch vielmehr wirkt die Holzarchitektur in die gebaute Umgebung nach; sie macht das einstige hier stattgefundene Dorfleben spürbar und bindet das Heutige in etwas Zeitloseres ein.
Das unmittelbar Vorangegangene ist die vor kurzem hier abgebrochene Kletterhalle; sie hat in ihrer eigenen Wichtigkeit zu dieser besonderen Standort-Entwicklung beigetragen. Herausfordernd waren die rigiden vorgegebenen Abmessungen – etwa das zu beplanende Baufeld, Grundriss, Geschossigkeit, Gebäudehöhe; selbst Dachtraufe, Fahrstuhl- und Treppenhausstandort und die statische Struktur pochten auf ihre Berücksichtigung. Und auch der frequentierte Ort hat Einfluss genommen, eine Bauart mit hohem Vorfabrikationsgrad anzuwenden.
„Umnutzen – und dabei möglichst viel Bausubstanz wiederzuverwenden“ – diese Prämisse setzten die lokalen Investoren vor, die die Kletterhalle nach Betriebseinstellung kauften. Gefordert war bezahlbarer Wohnraum an zentraler Lage, der Bahnhof in Gehdistanz, innert fünf Minuten, erreichbar. Eine präzise Auslotung der Eingriffstiefe und der beständige denkmalpflegerische Diskurs leiteten den Entwurf für die insgesamt dreizehn Stadtwohnungen – zwölf 2.5- und 3.5-Zi-Studios und eine 4.5-Zi-Attikawohnung.
Die Volumenerhöhung um ein Stockwerk war wesentlich für die erfolgreiche Transformation zu einem Wohnbau, weil das Erdgeschoss für kommerzielle Nutzungen zu bestehen bleiben hatte. Treppe und Fahrstuhl waren so einzubauen, dass der Geschäftsbetrieb weiterhin funktioniert.
Der fünfgeschossige Aufsatzbau hatte mit dem vorhandenen Betongerippe mit vorgegebenem Stützenraster als auch der bestehenden Fundation zu arbeiten. Nutz- und Auflasten waren mithin beschränkt und der Neubau musste statisch mit einem minimalen Eigengewicht auskommen. Insbesondere der Grund, weshalb eine vorgehängte Fassade in Holzrahmenbau für die Konstruktion gewählt wurde. Die dringliche Übernahme der städtebaulichen Form, in der vormals die Kletterhalle gewirkt hatte, ergab für den Wohnungsbau eine etwas „typologiefremde“ Tragstruktur – bestehend aus kräftigen Stützen und betonierten Geschossdecken. Diese schafft nichtsdestotrotz – als durchgehende Skelettstruktur, unabhängig von der Raumgliederung des jeweiligen Wohnungstypus wirkend – einen «inneren» Zusammenhalt.
Im Grundriss erlaubt die Skelettstruktur das Ausloten der räumlichen Potentiale des „plan libre“ mit offenen, fliessenden Raumfolgen. Wahlweise mit Blick auf verschiedene Umgebungen – auf Höhematte, Kunsthaus, Hofer-Amman-Platz oder die Berge – richten sie sich damit immer wieder neu und individuell ein. So zeigen sich die durchfliessend konzipierten Räume in doppelter Hinsicht zeitgeistig und mit jeder Menge Gestaltungsspielraum. Die Skelettstruktur in Kombination mit einem hohen Glasanteil in der Fassade erzeugt spezifische, unverwechselbare sowie loftähnliche Wohnräume.
Das Gebäude schliesst das städtische Geviert an der nordöstlichen Ecke ab. Damit reduzieren sich für die Wohnungen die offenen Gebäudeseiten auf die Ost- und Nordfassade. Umso mehr zeigt sich hier das Gebäude in seiner transformierten Gesamtheit und entwickelten Präsenz. Eine Holzfassade mit städtischer Ausprägung, die historische Gestaltungselemente aufnimmt und sich zugleich auf die Nachbarsbebauung bezieht. Städte werden aus Stein respektive Beton und Stahl gebaut, so die gängige Meinung. „Dieses Bild entspricht aber nicht mehr der Realität“ betonen die für den Neubau zuständigen Architekten. Seit einigen Jahren entstehen in den Schweizer Städten immer mehr Holzbauten. Dabei wird nicht nur Prestigearchitektur aus Holz gezimmert. Auch für ganze Wohn- und Gewerbeüberbauungen oder für Aufstockungen ist der natürliche Rohstoff heute erste Wahl. Doch wie sollte eine vorgefertigte, vorgehängte Holzfassade an einem städtischen Ort aussehen?
In die Aufstockung integriert wurden sowohl Referenzen an Holzbauten, die einst durch gemauerte Stadthäuser und Hotelpaläste ersetzt wurden als auch Fragmente der traditionellen Holzbauweise. Setzhölzer und horizontale Gurtelemente gliedern die Fassade. Durch den dunklen Holzton nimmt sich das Gebäude zurück und erscheint gewissermassen „entmaterialisiert“ im baulichen Kontext.
Mit dem neuen Wohnhaus hat der nachwachsende Baustoff aus der Region eine Renaissance im Ortsbild von Interlaken erfahren. Das Zentrum verfügt nun über eine angemessene Akzentuierung, über einen prägnanten Eckbau, der die denkmalgeschützten Bauten in der Umgebung kontrastiert und zugleich ergänzt. Die spezielle Ausgestaltung und ruhige, selbstverständliche Präsenz in der stadträumlichen Grammatik tragen dazu bei, dem vorgelagerten Platz eine einprägsame Identität zu verleihen.
Mit einer modernen Architektur in Holz erreicht der neue Wohnbau von Interlaken eine gute Einpassung ins Ortsbild und entspricht den Zielen einer nachhaltigen Bauwirtschaft, die graue Energie im Bestand erhalten und schonen zu wollen. Er schafft günstigen Wohnraum für die ständige Wohnbevölkerung in der Stadt, ohne die bestehende Struktur aufzulösen.
Städte sind dynamische Gebilde, die sich stetig verändern. Sie passen sich an die wechselnden Anforderungen und Bedingungen an, die vor allem durch ökonomische und strukturelle Faktoren bestimmt werden. Exemplarisch steht das Wohnhaus für diese kontinuierliche Verwandlung und vermag mit seinem an vergangene Zeiten erinnernden und daher zeitlosen Ausdruck den Stadtraum zu entschleunigen. Insofern ist hier eine eigene Referenz entstanden, eine Referenz für die Potenziale des Holzbaus in urbanen Räumen.
Text: ArchiMedium Bonauer
© Angela Meyer
Mehr zum Büro finden Sie hier.