Beim Emmenhof-Areal in Derendingen ist das Wasser seit je von grosser Bedeutung – ob damals für die Spinnerei oder für das später umgesetzte Wasserkraftwerk. Jenem Element hat das Architekturbüro Atelier Nu nun erneut die Aufmerksamkeit geschenkt und hierfür bei seinem Erstlingswerk die Turbine zum zentralen Motiv gemacht. Als vorletzte Bauetappe im Rahmen der Umnutzung des Areals treibt das Gebäude wortwörtlich das urbane Leben voran, setzt dabei die Gemeinschaft in den Fokus und selbstbewusst eine Landmarke in den umgebenden Kontext.
Rückblickend betrachtet stellten die Transformation und der Wandel schon immer die Konstanten in der Geschichte des Derendinger Emmenhof-Areals dar. Mit der Gründung einer Baumwollspinnerei am Emmenkanal durch die Zürcher Baufirma Locher & Cie AG vor über 150 Jahren fand dieses Industriequartier seinen Anfang. Für rund 300 Personen, die mit 23 ’000 Spindeln und dazumal zeitgemässen Maschinen hochwertiges Baumwollgarn produzierten, wurden damals Arbeitsplätze geschaffen, und das Quartier wurde zu einem der bedeutendsten Standorte der frühen Industrialisierung im Kanton Solothurn. In einer folgenden Phase wurde 1897 an jenem Standort das Mädchenheim Emmenhof errichtet – eine Aufnahme- und Erziehungsanstalt für rund 90 Mädchen, die man in der Fabriks-arbeit, Hauswirtschaft, Schneiderei und im Gesang unterrichtete. Bis 1932 ein erneuter Wandel stattfand und die Teigwarenfabrik Scolari AG die alten Fabrikhallen bezog und fortan hier Pasta in verschiedensten Varianten produzierte. Zudem wurde Anfang der 1940er-Jahre eine neue Turbinenanlage installiert, welche folglich die Stromversorgung für das Areal gewährleistete. Als 1973 jedoch die Teigwarenproduktion eingestellt wurde, mieteten sich unterschiedlichste Betriebe in den alten Industriebauten ein, und begannen, diese vermehrt als Lagerräume zu nutzen. Und heute – knapp 50 Jahre später – zieht im Emmenhof erneut neues Leben ein und bringt frischen Wind in das historische Areal. Bis 2030 soll das rund 5 ha grosse Industriegelände nach dem Gestaltungsplan von Adrian Streich Architekten zum neuen Stadtquartier umgewandelt werden. Das aktuellste Wohngebäude und den mittlerweile dritten Neubau des Areal stellt das reflektierende Turbinenhaus des Zürcher Architektentrios Atelier Nu dar.
Vorantreiben
In direkter Beziehung zu den historischen Industriegebäuden der ehemaligen Spinnerei und dem südlichen Wasserkraftwerk gliedert sich neuerdings das Turbinenhaus auf dem Derendinger Emmenhof-Areal ein – durchaus selbstverständlich und zugleich als skulpturale Landmarke. Entstanden ist dieses präg-nante Wohn- und Gewerbehaus aus einem Studienauftrag heraus, welchen das junge Büro bearbeiten durfte. Es konnte sich den Zuschlag letztlich sichern und gründete daraufhin das Atelier Nu. Mit seinem Neubau hat es dabei die Schwelle zur Natur im Westen baulich verkörpert, der gleichzeitig gemeinsam mit dem Wohngebäude der ersten Bauetappe den zentralen Spinnereiplatz zur anderen Seite hin eingrenzt. Sowohl architektonisch als auch programmatisch liefert das Objekt somit einen wesentlichen Beitrag zur Belebung und qualitativen Erweiterung des neuen Quartiers. Während mit Gewerberäumen und einem Gastronomiebetrieb im Erdgeschoss die Attraktivität des Areals auch für externe Besucher:innen gesteigert und die Aufenthaltsqualität des neuen urbanen Raums massgeblich mitentwickelt wird, finden darüber liegend 24 Wohneinheiten mit ihrem ganz eigenen Charme ihren Platz. Somit präsentiert das Motiv der Turbine nicht nur ein Vorbild hinsichtlich der Gestaltung, sondern wird wortwörtlich zur treibenden Kraft für die Gemeinschaft und als Katalysator fürs soziale Leben verstanden.
Smarter Dreh
Das Sujet der Turbine findet sich demnach nicht nur im Namen des Hauses wieder, sondern ist ein zentraler Aspekt in der Gestaltung – eine Maschine, die um eine zentrale Achse rotiert, allseitig um sich greift und Bewegung erzeugt. Die Drehung im Grundriss ist dabei viel mehr als ein gestalterischer Wille des Architektentrios: Durch diesen wortwörtlichen Dreh konnte die Aufenthaltsqualität der Wohnungen massgeblich gesteigert werden. Denn diese schaufelartige Anordnung lässt dreiseitig orientierte Wohneinheiten entstehen, die dadurch von einem erhöhten Tageslichtanteil profitieren und zugleich allen Bewohnenden einen Ausblick zum gegenüberliegenden Naturraum erlauben. Des Weiteren begeistern die Mietwohnungen dank dieser rotierten Grundrissausrichtung von morgens bis abends mit einem hohen Tageslichtanteil in den Innenräumen sowie sehr ansprechenden Wohnungsgrundrissen. So umfasst die Bandbreite der 24 Einheiten acht verschiedene Typen: 1,5- bis 4,5-Zimmer-Wohnungen oder auch überhohe Split-Level-Wohnungen, die sich westseitig zum Wasser hin ausbilden, decken die verschiedensten Ansprüche der Bewohner:innen ab. Arrangiert sind die unterschiedlichen Grundrisse jeweils in einem Dreierszenario, das sich über die Stockwerke hinweg wiederholt und somit ein einfaches Handling des abgedrehten System ermöglicht.
Innere Werte
Von den entstandenen, eher unkonventionellen Raumfiguren profitieren in weiterer Folge wiederum die Wohnungen: Die klassischen Erschliessungsflächen fallen weg, wodurch mehr Nutz- und Wohnfläche zur Verfügung steht. Ebenfalls wie in der äusseren Erscheinung zieht sich das von der Industrie abgeleitete Gestaltungsthema auch in der Innenausstattung fort und zeigt sich insbesondere in der Materialwahl. Anhydritböden mit Farbpigmenten wurden für die offenen Räume, die Küche und das Wohnzimmer gewählt, während in den privateren Räumen Parkett verlegt wurde. Die etwas unüblich ausformulierten Badezimmer bestehen aus zwei voneinander trennbaren Räumen – dem eigentlichen Bad und einem vorgelagerten Reduit – und präsentieren sich relativ schlicht. Bunte Fliesen und grosszügige Spiegelflächen setzen hier spannende Highlights, wobei Letztere zugleich dem klein gehaltenen Bad mehr Grösse verleihen. Apropos Farbe: Mit farbenfrohen Akzenten wurden die Einbaumöbel der Wohnungen trotz der eher schlichten und simplen Materialwahl in den Fokus gerückt. Dabei wiederholen sich im Gebäudeinneren nicht nur die Wohnungsgrundrisse, sondern zugleich deren Farbschema. Demnach bilden jeweils die Küche und das Badezimmer das bunte Paar einer jeden Wohnung und stellen dabei gleichzeitig einen farblichen Kontrast dar. Blaue Bäder und rot-weisse Küchen treffen folglich in den ungeraden Stockwerken aufeinander, während in den dazwischen liegenden Etagen gelbe Nasszellen mit blauen Küchen kombiniert wurden.
Perspektiven geben
Flexibilität erlaubt zudem das gewerblich genutzte Erdgeschoss, das sowohl als eine grosse Einheit genutzt als auch in vier einzelne Räume separiert werden kann. Derzeit wird das Parterre hofseitig von einem Gastronomiebetrieb bespielt, der nicht nur den Anwohner:innen als Treffpunkt dient, sondern darüber hinaus Externe ins neue Quartier holen soll. Damit soll das Emmenhof-Areal im Gesamten mehr belebt werden, zum neuen urbanen Treffpunkt werden und insbesondere im Sommer das Ufer des Kanals zu einem qualitativen Begegnungsort werden lassen. Auf der anderen Gebäudeseite und somit dem Elektrizitätswerk zugewandt hat einer der Mietenden sein Kunstatelier eingerichtet. Vor allem der hohe Tageslichtanteil wie auch die grosszügigen Räumlichkeiten bieten ihm hier die beste Arbeitsumgebung, um an seinen Landschaftsgemälden zu arbeiten. Lediglich skulpturale Betonstützen strukturieren den weitgehend offenen Raum mit den beinahe raumhohen Fensterflächen: Während die tragenden Elemente im Bereich der Decke eckig ausgeführt sind, wechseln sie in der Begegnungszone mit den Menschen in einen runden Querschnitt und wurden in einen rostroten Anstrich getaucht. Die öffentliche und somit differenzierte Nutzung im Unterschied zu den Wohngeschossen wird zugleich bereits von Aussen durch gelbe Sonnenstoren farblich signalisiert und das Erdgeschoss somit in einen einheitlichen Sockelbereich zusammengeschlossen, über welchem sich die von Blau dominierten Obergeschosse stapeln. Doch auch formal hebt sich das Erdgeschoss hervor: Die Ecken wurden aufgelöst und die Vorsprünge der Geometrie als schützende Vordächer verwendet. Ein ganz besonderes Detail erlaubt dabei eine ungewohnte Perspektive: Eines dieser Cut Outs in der Fassade wurde auf der Unterseite mit einer Spiegelfläche versehen und gewährt bei einem Blick nach oben völlig unerwartet einen neuen Betrachtungswinkel und lädt zugleich kurz zum Anhalten ein.
Erstrahlen
Doch nicht nur im Detail, sondern im Gesamten selbst präsentiert das Turbinenhaus ein visuelles Erlebnis, das je nach Sonneneinfall wortwörtlich in völlig neuem Licht erstrahlt. Denn der konventionelle Massivbau ist in ein prägnantes – und weniger konventionelles – Metallkleid gehüllt, das dadurch dem maschinellen Vorbild und Namen des Bauwerks voll und ganz gerecht wird. Die Alufassade reflektiert jedoch nicht nur das Licht, sondern spiegelt zugleich den umliegenden Kontext und die Bäume wider, wodurch das Gebäude mit der Umgebung zu verschmelzen scheint. Die reflektierenden Eigenschaften des Aluminiums erzeugen ein dynamisches Spiel aus Licht und Schatten, wodurch subtil die Form sowie die Funktion des Gebäudes betont wird. Insbesondere bei extremeren Wetterlagen ist die Wandelbarkeit des Turbinenhauses zu beobachten: Bei Nebel scheint das Turbinenhaus mit der trüben Atmosphäre zu verschwimmen, während es hingegen bei strahlend blauem Himmel in einen zarten Blauton getaucht wird. Es scheint, als würde sich die Gebäudehülle ähnlich einem Chamäleon an die aktuelle Stimmung der Umgebung anpassen. Was abseits der Vielseitigkeit und des Facettenreichtums für die metallene Hülle spricht, ist deren Aspekt der Nachhaltigkeit: Das rohe Aluminium der Fassade besteht hauptsächlich aus rezykliertem Aluminium und ist ebenso einfach auch wieder in den Materialkreislauf rückführbar. Vertikale Lamellen und Fensterrahmen in dunklem Industrieblau strukturieren die glänzende Oberfläche und verleihen der glatten Fassade zugleich Tiefe. Letzteres unterstreicht ein weiteres Detail: Die Gebäudehülle wurde um 4 Grad abgeneigt, um einerseits unerwünschte Reflexionen zu vermeiden und um andererseits das Motiv der rotierenden Turbine zu unterstreichen. Getestet wurde die Wirkung des silbernen Kleids hierfür zuvor in 1:1- Mock-ups, die über einen längeren Zeitraum auf dem Areal einen Vorgeschmack auf den Neubau gegeben haben.
Innen wie aussen
Ebenso am industriellen Vorbild angelehnt ist die innere Erschliessung des Hauses, sodass sich das Gestaltungsmotiv wortwörtlich als roter Faden durch das Projekt zieht. Im Gegensatz zur äusseren Erscheinung präsentiert sich das zentrale Treppenhaus jedoch sehr dunkel und geschlossen – als würde man sich im Inneren einer Turbine wiederfinden. Demnach erinnert dieser Innenraum mit seiner dunkelroten Wandfarbe und der ölig wirkenden Patina an einen Maschinenraum – was zusätzlich durch Metallgitter als Absturzsicherung und die rohen Betonstufen unterstrichen wird. Im Mittelpunkt bildet ein Lichtkegel die Achse, um welche sich die Grundrisse drehen sowie sich die Treppe umläufig nach oben schraubt. Ein Oberlicht fängt hierfür das Sonnenlicht ein, das auf dem gegenüberliegenden Spiegel am Boden reflektiert wird. Gleichzeitig täuscht die Spiegelfläche den Besucher:innen einen vermeintlichen Abgrund vor, erlaubt Blickachsen zu allen Geschossen. Damit wird der Schacht nicht nur ausgeleuchtet, sondern erhält zudem eine enorme Tiefe und eine Lebendigkeit, die von dem ungleichmässigen Wandanstrich betont wird.
Ort für alle
Die Wiederholung sowie das Spiegeln werden im Turbinenhaus allem Anschein nach zu zentralen Entwurfsstrategien – nicht nur im gestalterischen Aspekt, sondern ebenso in der Anordnung der Funktionen. So schliesst das Gebäude mit einem kollektiven Dachgeschoss ab und schafft mit dem öffentlichen Erdgeschoss eine Klammer um die dazwischen liegenden Wohngeschosse. Diese zusätzliche vielseitige Begegnungszone steht dabei teilweise auch der Öffentlichkeit bzw. den weiteren Anwohner:innen des Areals zur Verfügung: Der Gemeinschaftsraum samt kleiner Küche kann für private Veranstaltungen gemietet werden, dient zugleich den Mieter:innen für interne Treffen oder kann ebenfalls von Einzelpersonen als zusätzlicher Aussenraum zu den eigenen vier Wänden genutzt werden. Der einmalige Panoramaausblick und die dichte Baumbepflanzung lassen dabei einen qualitativ hochwertigen Ort entstehen, der sich allein schon durch diese atmosphärischen Gegebenheiten auszeichnet. Gleichzeitig unterstützt die Dachbegrünung die Beschattung und Kühlung des Gebäudes und gibt der Natur mit diesen Grünflächen ein Stück des versiegelten Bodens zurück. Transformation und Lebendigkeit sind somit zentrale Themen, die das Projekt formal als auch formell prägen und die Geschichte des Emmenhof-Areals aufgreifen. Das Turbinenhaus, als dritte Etappe des neuen Quartiers, wird zu einem sozial produktiven Ort auf dem Areal. Wobei ebenfalls das industrielle Motiv der Turbine in eine wohnliche und atmosphärische Umgebung gewandelt wird – sie wird zum Katalysator der Gemeinschaft und zum Antrieb für ein florierendes Miteinander im urbanen Kontext. Die Umnutzung des historischen Areals in Derendingen verbindet somit nun modernen Wohnraum mit Büro- und Gewerbeflächen, Freitzeiteinrichtungen sowie Gastronomie und lässt eine lebendige Begegnungszone entstehen.
© Federico Farinatti
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