Hören, sehen und vor allem fühlen – wie stark die uns umgebende Architektur unsere Wahrnehmung beeinflusst, uns lenkt und gleichzeitig Strukturen schafft, zeigt die Erweiterung des Kompetenzzentrums für Menschen mit Hörsehbehinderung „Tanne“ in Langnau am Albis. Überaus geschickt verbindet das Basler Architekturbüro Scheibler & Villard die individuellen Ansprüche der Nutzer und die funktionalen Anforderungen des Raumprogramms mit einer einprägenden formalen Sprache in dem Projekt „Farfalla“.
Dass gute Architektur viel mehr als optischen Ansprüchen und einer guten technischen Umsetzung unterliegt, zeigt die neugebaute Erweiterung der Schweizerischen Stiftung für Taubblinde „Tanne“ in Langnau am Albis. Besonders die Detailverliebtheit der Basler Architekten Scheibler & Villard erfährt bei diesem Projekt eine einmalige Gewichtung, die weitaus mehr als nur auf ästhetische Aspekte und designtechnische Feinheiten abzielt. So entstand mit viel Feingefühl und geschickten Lösungen in engem Austausch mit der Heimleitung ein gleichermassen optisch sowie funktionell stimmiger Bau – eine Architektur auch zum Anfassen.
Platz finden
Bisher haben die KlientInnen der „Tanne“ in den 30 Jahre alten Bestandsbauten – ein Ensemble aus einem Rund- und einem Langbau in rotem Backstein – gelernt, gearbeitet oder auch teilweise gelebt. Seit 1990 finden an diesem Standort viele unterschiedliche Nutzungen unter einem Dach Platz – Platz, der mittlerweile der hohen Nachfrage nicht mehr gerecht wird. Doch nicht nur platztechnisch, sondern insbesondere auch in Anbetracht der Nutzungsfreundlichkeit kommen die bestehenden Architektenbauten den immer vielseitiger werdenden Anforderungen nicht mehr nach. Denn in Langenau gilt es, individuell auf die KlientInnen zwischen 0 und 85 Jahren und deren mögliche spezifische Bewegungseinschränkungen sowie Bedürfnisse einzugehen und sie mit diversen Therapien oder auch technischen Hilfsmitteln zu unterstützen. Somit wurde im Juni 2015 ein öffentlicher Wettbewerb ausgeschrieben, um ein bestmögliches Resultat für die Erweiterung sowie die Umbauten des Bestands zu erhalten.
Anbauen
„Farfalla“ heisst das Gewinnerprojekt des Basler Duos Scheibler und Villard, das sich in diesem Auftrag bis ins kleinste Detail einbringen und ausleben konnte – denn auf viele Vorbildbauten konnten die Architekten nicht zurückgreifen. Gute Anhaltspunkte und klare Rahmenbedingungen lieferten dennoch die sehr exakten und umfangreichen Formulierungen seitens der Bauherrschaft bereits in der Ausschreibung, die die notwendigen sogenannten „Lebensfelder“ der KlientInnen benannte und das Therapiekonzept detailliert erläuterte. So präsentiert sich das Neubauprojekt nun als ein zweiteiliges Ensemble in Holzbauweise, das ein Dorf im Dorf ausbildet und den Aussenraum als Bewegungs- und Begegnungszone einbindet.
Eingekleidet
In natürlicher Optik heissen die beiden Neubauten die Besucher, Klienten oder auch Passanten willkommen: Für die Fassade wurde lasiertes und ölbehandeltes Fichten- und Tannenholz verwendet, dass dabei abwechselnd als vertikale Lattung und hölzerne Gitter umgesetzt wurde. Letztere setzen nicht nur optische Highlights und schaffen Variation in der kleidenden Hülle, sondern dienen zugleich als Absturzsicherung der dahinterliegenden Fensterelemente. Wie zu vermuten ist, verbirgt sich hinter dem Holzkleid ebenfalls ein Holzbau mit einem tragenden Kern aus Stahlbeton, der die Liftanlagen und Treppenhäuser aufnimmt. Rund um die Gebäude führen asphaltierte Wege, die nicht nur den Komplex des Kompetenzzentrums für Taubblinde und die einzelnen Häuser verbinden, sondern den KlientInnen gleichzeitig die Möglichkeit des Lernens und Erlebens bieten – auch wenn die Wege dabei dennoch möglichst kurz gehalten wurden. Gleichzeitig eröffnet der neu gestaltete Aussenraum eine Vielzahl an möglichen Szenarien: Angefangen von Sommerfesten über Weihnachtsmärkte bis hin zur öffentlichen Begegnungszone lässt sich der grosszügige Platz vielseitig nutzen und erlaubt eine diverse Bespielung. Demnach verlegt während der lauen Monate daher auch die hauseigene, öffentliche Cafeteria ihre Plätze nach aussen heisst Mitarbeiter sowie die Einwohner Langnaus willkommen und versorgt zudem die Wohngruppen, die Kita und den Hort. Die heimeigene Kantine ist dabei gleichzeitig in das Konzept des Taubblindenheims integriert, denn einzelne einbezogene KlientInnen kochen hier gemeinsam mit den Mitarbeitern der „Tanne“, um für den Alltag gerüstet zu werden. Doch nicht nur kulinarisch kommt man hier auf seinen Geschmack: Für optimales Wohlbefinden sorgt hier der intensive Holzduft des Innenausbaus, der die einmalige Raumatmosphäre so noch intensiver erfahrbar macht. Durch die grossen Fensterflächen in der Fassade gelangt zudem viel Tageslicht in den Raum und unterstützt den notwendigen und beabsichtigten Hell-Dunkel-Kontrast der Raumgestaltung.
Zeichen setzen
Vor allem für die Signaletik mussten die Architekten auf alternative Orientierungshilfen zurückgreifen: Inspiriert von diesen taktilen Hilfsmitteln und dem sogenannten „Snoezelraum“, einer Erlebniswelt für alle Sinne, arbeitete das Basler Architektenduo ein durchdachtes Konzept zur Orientierung aus. So unterstützen nicht nur kontrastreiche Farbkombinationen, sondern insbesondere auch unterschiedliche Düfte, diverse Atmosphären und Raumklänge sowie die Einbindung des Tastsinns die Benutzer bei der Wegfindung. Denn insbesondere im Alltag der KlientInnen spielt dieser eine überaus grosse Rolle: Ob als zusätzliches Element innerhalb der Kommunikation, als Unterstützung zur Selektion oder doch als subtile Erkennungs- und zuordnungshilfe kommt der Tactus in der „Tanne“ zum Einsatz. Demnach tragen die Mitarbeiter des Taubblindenheims individuelle Armbänder, die durch Ertasten die Identität derer preisgibt, Räume werden durch charakteristische Objekte vor dem Eingang gekennzeichnet sowie Handläufe mit Gravierungen versehen und ebenfalls mit markanten Sujets behängt.
Mustergültig
In die betonierte Trag- und Erschliessungsstruktur integrierten sie geschossweise differenzierte Reliefe um, die auf den ersten Blick als reines Dekoelement wahrgenommen werden. Doch anstelle von Buchstaben und Ziffern wurden hier kräftige Muster während des Schalens in die Wand eingefügt, die ein attraktives Emblem in der glatten Betonwand darstellen. Zudem setzten die Planer auf eine konträre Materialwahl – die Nutzungsräume in Holz sowie die Erschliessung im Betonkern ermöglichen eine wahrnehmbare Veränderung der Raumatmosphäre. Denn selbst mit beeinträchtigen Seh- und Hörsinn können die unterschiedlichen Raumtemperaturen, der veränderte Hall und natürlich die komplett konträren Oberflächenstrukturen die Heimnutzer in der Wegführung unterstützen. Überdies legten die Planer einen starken Fokus auf den Geruchssinn, der bedingt durch die unterschiedlichen Nutzungen beider Neubauten Einzug in das Orientierungskonzept gefunden hat. Während einer der Baukörper die Wohneinheiten und die eigene Wäscherei aufnimmt, lockt das gegenüberliegende Gebäude samt Schulzimmer und öffentlichem Café mit dem Duft von Frischgekochtem.
Kontrastprogramm
Vielmehr als in der separierten Nutzung und der unterschiedlichen Aromen differenzieren sich die beiden Holzbauten in ihrer Farbwelt, die immer auf einen starken Hell-Dunkel-Kontrast setzt. In beiden Bauwerken ist Fichten- und Tannenholz im Innenraum das dominante Material, das im Wohnhaus mit Bordeauxrot und im Schulhaus mit Moosgrün kombiniert wurde. So wurden die Flächen abwechselnd in kräftigen Farben und hellen Tönen umgesetzt, um bewusst Kanten und Stosse als mögliche Stolperfallen und Richtungsänderungen hervorzuheben. Selbst im skulpturalen Treppenhaus – das durch seine geschlossene Form ohne eine zusätzliche Absturzsicherung auskommt – wurden die Stufen im Hell-Dunkel-Kontrasts umgesetzt, um die Höhenunterschiede möglichst deutlich hervorzuheben. Differenzierte Raumatmosphären schaffen die Architekten zudem durch eine variierende Materialwahl: Während das Holz die Optik in den Wohnräumen prägt, wurden die Sanitärräume mit gefliesten Wänden – passend zur Farbfamilie – ausgestattet. Dank dieser konträren Haptik und der abweichenden Raumwirkung können die KlientInnen die Innenräume ihrer Nutzung nach zu ordnen.
(Er)lernen
Im Schulhaus finden neben den Klassenräumen für Kleingruppen von maximal vier Kindern noch zweifachgedämmte Musikzimmer sowie multifunktionale Turn- und Bewegungsräume Platz, in denen auch immer wieder „Sinnestheater“ aufgeführt werden. Über das erste Obergeschoss erstrecken sich die Unterrichtszimmer, von denen jeweils zwei mit einem Verbindungszimmer miteinander verbunden sind. Ein Stockwerk höher finden sich diverse Therapieräume, eine bewusst nach gängigen Normen gestaltete Schulküche sowie Gemeinschaftsräume für das Lehrpersonal wieder. Daneben wurden noch mehrere Nischen für Rollstühle und Gehhilfen vorgesehen, um einen hürdenfreien Bewegungsfluss in den Gängen und Korridoren zu ermöglichen.
Wie zu Hause
Das Wohnhaus zur anderen Seite beherbergt die nach Baumnamen benannten, altersdurchmischten Wohngruppen zu je sechs KlientInnen einer ähnlichen Altersgruppe – eine Anspielung auf die bunte Vielfalt eines Mischwalds. Unterteilt werden die Gruppen dabei bloss zwischen Kindern, Jugendlichen und erwachsenen KlientInnen, wobei eine der vier Wohngruppen letzteren ein Zuhause bietet. Zu jeder Wohngemeinschaft gehören hier eine eigene Küche, die privaten Schlafzimmer der Bewohner, ein Pflegebad sowie mehrere Nasszellen, die für die Erwachsenen privat über deren Schlafzimmer zugänglich sind. Während beinahe die gesamte Einrichtung den Bewohnern bereits zur Verfügung gestellt wird, dürfen die eigenen Schlafzimmer individuell gestaltet und zusätzlich möbliert werden, um ein möglichst hohes Wohlbefinden gewährleisten zu können. Zudem gehört zu jeder Wohngruppe ein halb offener Aufenthaltsraum: Dieses „Sommerzimmer“ ist eine Loggia mit einer Gartenlaube und eröffnet einen witterungsgeschützen Aussenraum.
Lichtspiele
Bei genauerer Betrachtung der Ausstattung der Räume, fällt vor allem die indirekte Beleuchtung und das Fehlen reflektierender Materialien und Oberflächen auf. Im gesamten Komplex sind somit Spiegel kaum bis gar nicht auffindbar und gängige Leuchten durch speziell für dieses Projekt designte Leuchtkörper ersetzt. Kreisleuchten in Kuppelform sorgen für ein nicht blendendes Licht, das den Nutzern die Wahrnehmung der Farbkontraste erleichtert. Die KlientInnen können so ihren Fokus verstärkt auf die verschiedenen Texturen der Oberflächen richten und die differenzierten Raumatmosphären auf sich wirken lassen.
Sinnestheater
Gekonnt und gut durchdacht vereint die „Tanne“ alle Sinne unter einem Dach und kreiert ein Konzept, dass viel mehr als nur ein optisch ansprechendes Gesamtbild schafft oder auf den ersten Blick dekorative Elemente beinhaltet. Detailverliebtheit wird hier wahrlich grossgeschrieben und ist ein überaus vielseitiges Mittel zum Zweck, das Funktion und Optik in Einklang bringt.