Perfekt unperfekt

An der Schnittstelle zum Berner Oberland, wo eine malerische Kulisse auf die präsenten Militärbauten der grössten Schweizer Garnisonstadt trifft, prellen nun auch die moderne, reine Welt des Digitalen und die raue Welt des Maschinenbaus aufeinander. Mit dem Umbau und der Sanierung der ehemaligen Habegger Maschinenfabrik in Thun setzt Johannes Saurer damit wortwörtlich ein Sinnbild der Transformation und lässt das Gebäude dabei gleichzeitig zum erfahrbaren Geschichtsbuch werden. Dass Umnutzungen nicht nur Geschichten weitererzählen, sondern zugleich neue, einmalige Qualitäten hervorbringen können, verdeutlicht der Umgang mit dem ehemaligen Produktionsgebäude bestens.

Vor knapp siebzig Jahren wurde das dreiteilige Gebäude der Uhrensteinfabrik Rüfenacht & Co. von dem damals 35-jährigen Thuner Architekten Franz Wenger erbaut und diente danach dreissig Jahre lang diesem Familienunternehmen. Nebeneinander reihten sich während dieser Zeit die Arbeitsplätze entlang der Fenster, die als scheinbar gläserne Aussenwand den stützenfreien Innenraum eines jeden der drei Stockwerke begrenzte. Mit dieser derart lichtdurchlässigen Aussenhülle sowie dem offenen Grundriss konnte die für die filigrane Handarbeit nötige Belichtung garantiert werden. Zudem wurde man hier dem Attribut eines Familienunternehmens mehr als gerecht: Ostseitig schliesst das ehemalige Wohnhaus der Unternehmensfamilie an das Produktionsgebäude an, sodass Wohnen und Arbeiten Tür an Tür stattgefunden haben. Auf der gegenüberliegenden Stirnseite des Baus wurde über die Jahre zudem eine niedrigere Lagerhalle an das rechteckige Volumen angefügt, um dem wachsenden Geschäft gerecht zu werden. Nach drei Dekaden erfuhr das Industriegebäude im Westquartier Thuns mit dem Auszug der Uhrensteinfabrik und dem Einzug der Habegger Maschinenfabrik dann den ersten grösseren Wandel. 1943 vom Bergbahnpionier gegründet, ist das Familienunternehmen international für ihren Mehrzweckzug bekannt, der seit 1951 in Thun produziert wurde. Mit diesem Eigentümerwechsel änderte sich zugleich das Programm innerhalb der Räumlichkeiten: Anstelle feiner Handarbeit und zerbrechlicher Uhren bespielten grobe, laute Maschinen und der Duft nach Schmieröl für die nächsten vierzig Jahre das Gebäude an der Mittleren Strasse Thuns. Eine komplementäre Nutzung, die bauliche Massnahmen wie statische Verstärkungen und zusätzliche Einbauten mit sich brachte und gemeinsam mit den alten sowie den neuen Spuren dem Industriegebäude einen ganz eigenen Charakter verlieh.

Und jetzt?
Doch nach vier weiteren Dekaden bahnte sich mit dem Auszug der Thuner Maschinenfabrik erneut ein neues Kapitel für den Industriebau an: Grund hierfür war die Integration des Habegger Familienunternehmens im April 2021 in die Firma Jakob AG, einen Hersteller und Anbieter von Drahtseilen und Seilnetzen. Durch die Zusammenführung dieser beiden Schweizer Unternehmen am Standort in Trubschachen können nun künftig Seil und Seilzug unter einem Dach gefertigt und zugleich der Geschäftsbereich Seil- und Hebetechnik der Jakob AG im In- und Ausland ausgebaut werden. Somit erlebt das Gebäude mit seinem neuen Kapitel erneut einen markanten Wechsel und zugleich einen Massstabssprung im Raumprogramm: Anstelle der grossen Industriemaschinen bespielt die nächsten Jahre ein Ensemble von Rechnern der Firma Informaticon die Räumlichkeiten und lässt die neue digitale Welt in die ehemaligen Industriehallen einziehen. Die für diesen Programmwechsel nötigen Umbauarbeiten wurden dem lokalen Architekten Johannes Saurer dabei als Direktauftrag anvertraut, der zu Beginn im Rahmen einer Machbarkeitsstudie verschiedene Varianten gegenüberstellte und das Ausmass der Arbeiten evaluierte. Angesichts der im Bestand eingeschlossenen grauen Energie sowie der Themen der Wiederverwendung und der Nachhaltigkeit sowie natürlich auch der baukulturellen Bedeutung des Industriebaus wurde vom Abbruch abgesehen. Stattdessen richteten die Planer die volle Aufmerksamkeit auf die Qualitäten des Baus von Franz Wenger, wo nun Neues auf Altes trifft:  Denn weitestgehend wurde das Objekt aus den frühen 60er-Jahren in seinem Zustand belassen und der Innenraum lediglich mit minimalsten Eingriffen dem neuen Programm angepasst. Grösseren Aufwand bedeuteten hingegen die energetischen Aufbesserungen entsprechend heutiger Anforderungen sowie die statischen Anpassungen, die insbesondere für die Aufstockung und die notwendige Erdbebensicherheit unumgänglich waren.

Treu bleiben
So bleiben dank der gering gehaltenen Ausbesserungen in den Innenräumen die Spuren der Maschinen an Böden und Wänden sowie die mehr oder weniger konventionellen An- und Umbaumassnahmen der Fabrik erhalten, sodass die leichte Note von Maschinenöl beim Betreten der Hallen noch wahrnehmbar ist. Demnach ist in diesem Projekt eindeutig Authentizität das Stichwort: Vergilbte Stellen und Löcher an den Wänden und in den Böden, zusammengestückelte Bauteile, nicht ganz perfekte Detaillösungen sowie die originalen Radiatoren an den Wänden prägen daher selbst nach den Umbauarbeiten weiterhin das Gesamtbild und insbesondere die einmalige Atmosphäre der Räumlichkeiten. Zudem konnte aufgrund der aufs Notwendige reduzierten Eingriffe in den Bestand an Kosten gespart werden und dank Einbauten aus einfachsten Materialien das Budget geschont werden. So treffen die von den Jahren gezeichneten kaminroten Hartsteinholzböden – teilweise sogar in spezieller marmorierter Optik –, die alten Heizkörper und die Wände voller Gebrauchsspuren auf ein paar wenige neue Mobelstücke wie die simplen Teeküchen in jeder Etage. In einem frischen und noch strahlenden Weiss sind die aus lackierten Grobspanplatten realisierten Einbauten neben der zentralen vertikalen Erschliessung positioniert, wo sich der ausgetauschte Lift in dezentem Anthrazit farblich bestens in die industrielle Umgebung einfügt. 

Gleich, aber anders
In neuem Glanz – aber dennoch im industriellen Stil – erstrahlt seit den Umbauarbeiten auch die daneben liegende, zweigeschossige Lagerhalle, die in gleicher Manier mit einfachsten und reduzierten Massnahmen zur Mehrzweckhalle umfunktioniert wurde. Unter anderem wurden hierfür zwischen ihren Stahlträgern, die zugleich eine Galerie als Verlängerung des Erdgeschosses aufnehmen, Glasscheiben eingezogen und somit kleinere Meeting- und Büroräume im Untergeschoss geschaffen. Zur Stirnseite der Halle hin wurde neben diesen kleinen Büroräumen eine grössere, mehrteilige Kücheninsel eingebaut: Ebenfalls wie die Teeküchen aus Grobspanplatten umgesetzt, jedoch roh belassen und unlackiert, unterstreicht sie den industriellen Charme der Halle und fügt dem Raum zugleich ein multifunktionales Attribut hinzu. Ob als Pausenraum für die Mitarbeiter oder doch als Verpflegungsstelle für diverse Veranstaltungen genutzt, vermag die ehemalige Lagerhalle nun mehr, als nur als Abstellraum zur Verfügung zu stehen. Für mehr Wohnlichkeit und eine höhere Raumqualität wurde zudem in das Dach der Halle ein Fensterband eingefügt, wodurch der offene Innenraum nun mit Tageslicht ausgehellt wird und von der Galerie aus eine neue Sichtachse zum angrenzenden Gebäude hin eröffnet wurde. Um das generelle Wohlbefinden in der ehemaligen Werkhalle zu erhöhen und diese selbstverständlich energetisch an die heutigen Standards anzupassen, wurde diese bis auf das Stahlgerüst und die Betonmauern abgebrochen, besser wärmegedämmt, innen mit Holz verkleidet und aussen mit einer neuen Wellblechfassade versehen. Zudem wurden die zwei alten Garagentore der jeweiligen Stirnseiten gegen jeweils eine gut isolierte Variante getauscht und das bestehende Anlieferungspodest in etwa auf dem Niveau der Hauptstrasse auf der Südseite der Halle verlängert und überdacht. Von dort führt innen liegend eine neu eingefügte Wendeltreppe aus Metall in die multifunktionale Halle im Untergeschoss und greift mit ihrem dezenten Anthrazit-Farbton den industriellen Charme der dunkel lackierten Träger des Gebäudes auf. Ein Tragwerk, das sich bisher bestens bewährt hat und auch in den folgenden Jahrzehnten noch beste Dienste leisten soll, wofür zusätzlich eine durchgängige Stützwand über alle Stockwerke eingezogen wurde – einerseits um die notwendige Erdbebensicherheit zu garantieren und andererseits um das neue Dachgeschoss tragen zu können.

Höher hinaus
Das angefügte Geschoss in Sichtbeton mit Aussendämmung dient dabei gleichzeitig als zusätzliche Aussteifung auf horizontaler Ebene und führt in seiner Optik gleichermassen den Charakter des Fabrikgebäudes fort. Die kleinen und feinen Unterschiede finden sich lediglich in der etwas höheren Raumhöhe des neuen Stockwerks sowie in der vereinfachten Fenstereinteilung, die ohne horizontale Riegel die vertikalen Raummasse zusätzlich betont. Darüber hinaus wurde die Dachneigung von 25 Grad auf 10 Grad geändert. Zudem wurde das Dach mit einer neuen Eindeckung eingekleidet. Und es wurden gemäss dem Naturschutz sechs Brutkästen für Mauersegler unter dem Vordach angebracht. Im Inneren wird die Gebäudeerweiterung vor allem im Treppenhaus ersichtlich, wo an das alte Treppengeländer ein neues in komplett gleicher Optik angestückelt wurde und der frische Sichtbeton erkennbar wird. Doch nicht nur in Bezug auf Details in der Erschliessung orientiert sich der Anbau am Bestand: Analog zu den anderen Etagen wurden die meisten Installationen auf Putz realisiert bzw. Leitungen sichtbar geführt – im Gegensatz zu den anderen Geschossen konnten die Bodenleitungen hier jedoch versenkt realisiert werden. Auch in der Farb- und Materialwahl gleichen sich der Bestand und die Erweiterung: Für die Fensterrahmen wurde der helltürkise Farbton, für den Boden das kaminrote Hartsteinholz vom Bestand übernommen. Zudem ist die oberste Etage der ehemaligen Uhrenfabrik von minimalistischen Inneneinbauten geprägt. Doch neben dieser zusätzlichen Nutzfläche hat das künftige Bürogebäude einen weiteren Aussenraum erhalten, der sich nordseitig auf der Höhe des Treppenhauses befindet und und von einer Terrasse überdacht wird. Dieser schattige Aussenraum in Richtung Innenhof, der eine Begegnungszone und einen Ort des Austausches schafft, begeistert zudem mit einem spannenden Blick auf die gegenüberliegende Fabrikshalle sowie die Krananlage und insbesondere mit der freien Aussicht bis hin zum Schloss Thun.

Nachhaltig
Die baukulturelle Geschichte der Umgebung wird somit im Aussenraum sichtbar und wird zudem bei diesem Projekt selbst konsequent durchgezogen. Dabei richtet sich der Blick vermehrt auf das Unperfekte innerhalb der vier Wände, die mehr als nur eine Geschichte erzählen. Denn all diese unzähligen Kleinigkeiten und selbstverständlichen „Fehler“ schaffen ein Ambiente, das die unsichtbare Latte des Perfektionismus niedriger legt und dadurch Vertrautheit schafft. Zugleich führt die Umnutzung und Erweiterung des Industriegebäudes Traditionen auf mehreren Ebenen fort und erzählt dabei die Geschichten weiter: So wird der Gewohnheit eines familiengeführten Unternehmens treu geblieben, das baukulturelle Gut des Industriebaus bewahrt, dank Umnutzung die Nachhaltigkeit und insbesondere die Identität des Ortes mit einbezogen sowie zuletzt die vergangenen Kapitel des Gebäudes für die nächsten Generationen bewahrt. Weniger ist meist mehr, sodamit sowohl die Identität des Ortes, dessen Authentizität als auch dessen ganz individueller Charme erhalten bleiben und eine einmalige Umgebung geschaffen wird, deren Highlights in den vermeintlich unperfekten Details liegen.

© Thomas Telley

Mehr Informationen zu dem Büro finden Sie hier.

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