Ort des Seins

Die Gemeinnützige Bau- und Wohngenossenschaft (GBWG) Freistatt ist die älteste Wohnbaugenossenschaft in Thun. Mittlerweile blickt diese auf eine 100-jährige Geschichte zurück und vermietet derzeit 111 Wohnungen im Thuner Westquartier: In den 1920er-Jahren wurde die ältere der beiden Siedlungen an der Pestalozzistrasse sowie am Fischerweg erstellt und erfährt nun, knapp ein Jahrhundert später, eine Teilsanierung. Im Rahmen dieser Arbeiten haben die Genossenschaftswohnungen neue Küchen bekommen, die vom lokalen Büro 1899 Architekten beinahe alle individuell in den Grundriss eingepasst und mit einem Blick fürs Detail umgesetzt wurden. Diese Aufwertung, die auf die sorgfältige Sanierung der 1990er-Jahre und deren Farbkonzept basiert, ist ein erster Schritt und dabei auch der Anfang des grossen Projekts „Neue Freistatt“, welches weiteren Wohn- und attraktiven Quartierraum ab 2027 schaffen soll.

„Eine gute Küche ist das Fundament allen Glücks“, erkannte bereits der französische Meisterkoch Georges Auguste Escoffier. Denn neben dem Badezimmer ist die Küche der Raum des Hauses, der in den vergangenen einhundert Jahren die meisten architektonischen und technischen Veränderungen durchlebt hat: Mit dem steten Bevölkerungswachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der voranschreitenden Industrialisierung stand in den Mietshäusern der Küche häufig nur noch ein Minimum an Platz zu. Daher hatten in den engen Etagenwohnungen der Arbeiter einzeln stehende Küchenmöbel wie in grossbürgerlichen Haushalten keinen Platz – das Arbeitsdreieck von Herd, Spüle und Kühlschrank etablierte sich. Für einen Meilenstein der Küchengeschichte sorgte dabei auch die österreichische Architektin Margarete Schütte-Lihotzky: Unter dem Initiator des Wohnungsbauprogramms „Neues Frankfurt“, Ernst May, plante sie 1926 mit der Frankfurter Küche ein funktionales Raumwunder unter Berücksichtigung von ergonomischen Kriterien und ausreichend Stauraum. Sie gilt als Vorläufer der Einbauküche und wurde in 10 000 Wohnungen verbaut. Heute versteht sich die formschöne und funktionale Küche als ein offener und einladend gestalteter Lebensraum, der 24 Stunden funktionieren muss und zum gesellschaftlichen Mittelpunkt für Familien, Freunde und Gäste wird.

Neue Wege einschlagen
Einen neuen sozialen Mittelpunkt und Ort des Seins haben nun auch 39 Wohnungen der Gemeinnützigen Bau- und Wohngenossenschaft (GBWG) Freistatt in Thun erhalten. Seit den 1920er-Jahren bieten die Wohneinheiten in den aneinandergereihten Mehrfamilienhäusern zwischen der Pestalozzistrasse und dem Fischerweg preiswerten Wohnraum im Westquartier der Stadt. Realisiert im Sinne des architektonischen und städtebaulichen Typus der Gartenstadt, setzt dieses Viertel mit seiner Aufwertung den ersten Schritt in Richtung Quartierbelebung und Steigerung der Attraktivität – ein Vorhaben, das ein Vorbote des grossen Projekts „Neue Freistatt“ ist. All die Arbeiten des lokalen Architekturbüros 1899 Architekten basieren dabei auf der Entwicklungsstudie von Schär Buri Architekten von 2015, die die Teilsanierung der intakten Bausubstanz als optimalste Lösung herausfilterte und damit ein möglichst langes Bestehen der Siedlung garantieren soll. Für diese ersten Massnahmen innerhalb der vier Wände wurden somit verschiedene Küchentypen für die individuellen Grundrisse ausgearbeitet – wobei die Thuner Architekten dennoch ihrem Farb-, Material- und Gestaltungskonzept treu geblieben sind.

Alt trifft auf Neu
Als farbliche Inspiration dienten die charakteristischen und markanten Fensterläden der rund 100-jährigen Häuser, die nun nicht als roter, sondern als grünblauer Faden durch die Küchengestaltung ins Innere geholt wurden. Ebenso dienten die keramischen Vogue-Platten mit ihrem Schachbrettmuster in Blaugrün-Grau aus der 90er-Jahre-Sanierung als farbliche Ausgangslage, die noch heute glücklicherweise in identischer Abmessung und Farbigkeit erhältlich sind und wo nötig ergänzt werden konnten. Der grünblaue Farbton als Inspiration für die neuen Küchen stammt dabei aus der Zeit dieser Sanierung, insbesondere von Türen und Fensterläden, die zuvor dunkelgrün waren, sowie den Wandplättli. Neben prägnanten Akzenten bringt die farbenfrohe Möblierung somit seit 30 Jahren frischen Wind in die doch schon älteren Mauern und ist mittlerweile Teil der 100-jährigen Geschichte der Freistatt geworden, die in der Küche aufgenommen, angeknüpft und weitergearbeitet wurde. Doch nicht nur der alt bekannte Farbton, sondern auch der Bodenbelag wurde weitergeführt: Als Vorbild dienten hierfür die kaminroten Fliesen des Treppenhauses, die nun auch in der Küche zu finden sind, den ehemaligen PVC-Boden ersetzen und dort zugleich einen angenehmen Farbkontrast schaffen. Optisch kaum wahrzunehmen, unterscheiden sich die beiden Fussböden verschiedener Generationen in der Küche sowie der Erschliessungsfläche bei genauer Betrachtung lediglich in ihrer Verlegungstechnik. Wurden früher die Fliesen noch nass verlegt, werden sie heute direkt auf den schwimmenden Unterlagsboden gesetzt, sodass ein etwas breiteres Fugenbild das Resultat ist und einen Zeitsprung im Detail verraten. Auch an der Küchenrückwand lassen die Fugen durch deren Verfärbung und den Abstand bei genauerer Betrachtung darauf schliessen, wo zwei neue Plättli-Reihen angefügt wurden – vor allem dort, wo durch die neue Möblierung grössere, freie Wandflächen entstanden sind.

Formstark
Im Grossen und Ganzen wurde zwar die räumliche Anordnung der Küchenzeile beibehalten, dennoch wurde angesichts der Materialität und der technischen Ausstattung aufgerüstet sowie der zuvor fehlende Stauraum in der neuen Möblierung mit gedacht. Den offensichtlichsten Unterschied findet man jedoch im Design: So wurde nicht nur von Gas auf Induktion umgstellt, sondern auch ein besonderes Augenmerk auf die kleinen, vermeintlich unauffälligen Details gelegt. Während Ersteres vor allem sicherheitstechnische sowie energetische Aspekte abdeckt, wirken sich letztere Massnahmen insbesondere positiv auf die Raumwirkung und die Benutzung der Küche aus. Die Oberschränke wurden daher tendenziell eher höher angebracht, um dem Raum mehr Grosszügigkeit zu verleihen, und die Kombination von Herd und Ofen eröffnet des Weiteren neuen Stauraum in den vorher ungenutzten Ecken, die nun mit durchdachten, tiefen Eckschränken zusätzlich Fläche bieten. Wortwörtlich abgerundet werden all diese praktischen Aspekte vom gewünschten Retrodesign der Küche, das neben der Farbe vor allem durch die abgerundeten Ecken der Schranktüren unterstrichen wird. Um diesen beabsichtigten Gestaltungswillen zusätzlich zu betonen, wurden die Stirnseiten der Küchenschranktrennwände, sichtbar in den  Fugen, zwischen den Küchenschränken mit einem dunkleren Blauton versehen, sodass die Konturen der Schranktüren stärker zum Ausdruck kommen. Darübe hinaus wurde auch bei den Handgriffen wortgetreu selbst Hand angelegt: Denn für diese wurde nicht auf gängige Armaturen zurückgegriffen, sondern es wurden mit viel Liebe zum Detail eigene Griffe designt. Insgesamt wurden so rund 400 solide aus jeweils einem Stück Eichenholz gekählt – an deren Proportionen und Rundungen vorab in diversen Styropor-Mock-ups gearbeitet wurde. Auch an der Oberfläche der Küchenschränke sowie der Arbeitsplatte wurde intensiv getüftelt und letztlich eine pulverbeschichtete MDF-Platte aus einem Werk im benachbarten Thun-Allmendingen für die Fronten und eine satinierte Abdeckung aus Calanca Granit aus dem Kanton  Graubünden für den Arbeitsbereich gewählt. Dabei wurden die Küchen – in ihrer Funktion und ihrem Design – unkompliziert gehalten: Schranktüren sind, wo aus Platzgründen kein Standardgriff möglich ist, statt per Tip-On-Mechanismus mit unterseitiger Griffnut oder per kleinem Griffknopf zu öffnen. Tiefe Eckschränke wurden anstelle von einem Karussell oder Ausschwenkschubladen, die zwar praktisch, aber nicht platzeffizient, teuer und zudem störungsanfällig sind, mit grossen Tablaren ausgestattet. So wurde mit pragmatischen Mitteln, bei einem dennoch hohen Gestaltungsanspruch, günstige Lösungen gesucht.

Hand in Hand
Doch nicht nur in der Küche wurde auf effizientes Arbeiten Wert gelegt: Während der Sanierungsarbeiten, die durchwegs lokale Unternehmen und Handwerker durchführten, konnten die Bewohner in ihren Wohnungen bleiben und mussten nicht temporär eine Ausweichwohnung beziehen. So wurde jeder Familie zur Überbrückung der dreiwöchigen Umbauzeit eine Induktionsplatte samt Kochset zur Verfügung gestellt, sodass das Wohnzimmer kurzerhand zur vorübergehenden Küche umgewandelt wurde und die eigenen Pfannen vorab auf deren Induktionskompatibilität geprüft werden konnten. Exakt terminiert, folgten dann der Abriss der alten Küche und der Einbau der neuen Möbel. Schliesslich wurden die Arbeiten letztlich von Malern und Fliesenlegern abgeschlossen. Neben der Küchensanierung hat zudem das Badezimmer eine Auffrischung erfahren: Da hier die hellblauen Fliesen der Wände noch äusserst gut in Schuss waren, wurde lediglich der Bodenbelag gegen ein rutschfestes Linoleum getauscht, das mit seinem dunklen, leicht marmorierten Schwarzton einen modernen Touch in die doch etwas älteren Wände bringt.

Weiterdenken
Neu trifft in diesem Projekt auf Alt – und Altes inspiriert Neues. Die Teilsanierung der Siedlung I der Gemeinnützigen Bau- und Wohngenossenschaft Freistatt ist dabei jedoch nur der Anfang: Gemeinsam mit der Städtischen Pensionskasse Thun schafft die Genossenschaft ab 2025 an der Länggasse in Thun ein Areal mit rund 260 neuen Wohnungen und einem kleinen Gewerbezentrum samt Poststelle, Café, Kinderbetreuungsstätten etc. − die Neue Freistatt. Sie ersetzt 30 städtische und die 72 Wohnungen der Freistatt-Siedlung II, beide aus den 1940er-Jahren. Wobei die GBWG Freistatt rund 160 und die Städtische Pensionskasse Thun etwa 100 der neuen Wohnungen zur Verfügung stellen wird. Aus 16 eingereichten Beiträgen wurde das Projekt „Aronia“ des Thuner Büros Brügger Architekten und des Studios Vulkan Landschaftsarchitektur zum Sieger gewählt, das vor allem städtebaulich, architektonisch, ökologisch und ökonomisch überzeugt hat. Mit einem hohen Grünanteil schreibt das Siegerprojekt den Gartenstadtgedanken der Freistatt fort und nimmt die bisherige Gliederung des Areals mit zwei längs ausgerichteten Gebäudezeilen am Jägerweg und an der Länggasse auf. Vorgesehen sind vier- und fünfgeschossige, unterschiedliche Gebäudetypen, die verschiedene Wohnformen ermöglichen und individuellen Wohnbedürfnissen einer breiten Zielgruppe Rechnung tragen. Zwischen den beiden Häuserzeilen befindet sich der grosse und für das Quartier zugängliche Freiraum. Er ist so flexibel angedacht, dass die Nutzung etappenweise und langfristig an die Bedürfnisse der Bewohner:innen anpassbar bleibt. Diese neue grüne Mitte, ein halböffentlicher, von den Bewohnenden mitzugestaltender Grünraum, wird gegen die Mattenstrasse hin vom erhaltenen, ortsbildprägenden Bestandsbau abgeschlossen. Dieses „Gemeinschaftshaus“ mit Café bildet zusammen mit dem neu geschaffenen, öffentlichen Lindenplatz das Herz der Neuen Freistatt, dessen Bezug ab 2027 vorgesehen ist. Am Westende des Platzes entsteht ein siebengeschossiges Gebäude mit Wohnungen und einer Poststelle. Aufgrund der kompakten Gebäude und Grundrisse ergeben sich gute Werte bezüglich Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit, sie werden ebenfalls einen Ort des Seins garantieren.

©Carolina Piasecki

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