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Mehr als eine Generation

Wohngebäude mit geschickter Nachverdichtung: Die drei Geschosswohnungen bilden auf engstem Raum ein Gefüge, das eine harmonische Einfügung in das Quartiers-, Orts- und Landschaftsbild leistet – und dabei eine hohe Aufenthaltsqualität für Mieterschaften verschiedener Lebenslagen entwickelt. 

Im Westen von Windisch liegt das Wohnquartier «Reutenen» – in einer Gemeinde, die mit dem Bezirkshauptort Brugg stark zusammengewachsen ist. Diverse identitätsstiftende Stadträume und Zentren, nutzungsdurchmischte Quartiersgestaltungen und städtebauliche Aufwertungen sollen in den nächsten Jahrzehnten in schrittweiser Planung unter Berücksichtigung des demografischen Wandels strukturiert transformieren. Dazu gehört sowohl die bauliche Verdichtung wie auch das Mehrgenerationenwohnen, eine langfristig angelegte Lebensform in einem generationenübergreifend genutzten Wohnraum. Der Ersatzneubau, den das Architekturbüro Tschudin Urech Bolt (Brugg) im Sinne eines solchen Wohnmodells entwickelt hat, folgt dabei auf exemplarische Weise dem Auftrag der Nachverdichtung innerhalb der dazugehörenden, dafür neu überschriebenen Bauzone. Trotz seines grösseren Massstabes fügt sich das drei Geschosswohnungen umfassende Gebäude harmonisch in den Kontext ein. 

Die Bauten von Tschudin Urech Bolt zeichnen sich durch einen intensiven Diskurs mit der Umgebung aus. So begleitete der Anspruch, einen Ort und dessen Atmosphäre zu verstehen und diesen mit präzisen Eingriffen zu erweitern, auch dieses Projekt von Beginn weg. Unterschiedlichste Stadt- und Landschaftsräume umgeben das «Reutenen-Quartier». Eine ungemein diverse und lebhafte Umgebung, die sich zwischen Bahnhofsgebiet Brugg, Industrie-, Gewerbe- und Sportanlagen und nicht zuletzt diversen Auenschutz- und Naherholungsgebieten entfaltet. Hier ist ein heterogen bebautes Wohngebiet entstanden, das sich mittlerweile auf verdichtetem Raum zu behaupten hat. In diesem stark in Strassen gegliederten Quartier wechseln sich in Massivbauweise erstellte Bürgerhäuser aus der Entstehungszeit 1930 bis 1950 ab und werden mit Wohnblöcken der 1970er-Jahre ergänzt.

Die ruhige Wohnhausgegend bietet sich als attraktiver Platz für Mehrgenerationenmodelle an, die sich der wandelnden Demografie und den steigenden Immobilienpreisen annehmen resp. entgegenstellen. 

Genau das hat sich auch die Bauherrschaft und Eigentümerfamilie gesagt, die das Nachbargrundstück bewohnt: Das bestehende Wohnhaus nebenan abzubrechen und durch ein repräsentatives neues, zukunftsorientiertes 3-Familien-Generationenhaus zu ersetzen. Die Parzelle befindet sich gemäss Bau-und Nutzungsordnung der Gemeinde Windisch in der Nachverdichtungszone W2N – damit konnte der Ersatzneubau von einer zusätzlichen Ausnützung und Geschossigkeit profitieren. Das Mehrgenerationenhaus ist das erste Gebäude dieser neu überschriebenen Bauzone, das verdichtetes Wohnen generiert; dabei nimmt es die Punktweise der typischen Quartiersbauten sowie die umgebenden Gebäudefluchten auf, bezieht sich wie die Umgebungssubstanzen ebenso stark auf die angrenzende Quartiersstrasse und achtet zusätzlich auf gemeinschaftlich nutzbare Erschliessungs- und Aussenräume. 

In seiner Gestalt referenziert das Gebäude das Wohnhaus „Egon Eiermann“ (Entstehung 1959 bis 1962) in Baden-Baden des Architekten Egon Fritz Wilhelm Eiermann, der als einer der bedeutendsten deutschen Architekten der Nachkriegsmoderne gilt. Dieses aus Backstein damals erstellte Gebäude orientiert sich mit einer Abfolge von Raumgruppen zum Garten und definiert damit den fliessenden Raum zwischen innen und aussen. Als zusätzlicher Aussenraum und zugleich Filter dient auf dem oberen Geschoss eine vorgehängte Balkonschicht. Diese beiden Elemente nimmt der Neubau auf, der erdgeschossig eine 3.5-Zi-Wohnung und in den beiden Obergeschossen jeweils 4.5-Zi-Wohnungen organisiert. Der erdgeschossige Aussenraum transformiert dabei zum zusätzlichen Zimmer in den oberen Geschossen. 

Wie beim Wohnhaus „Egon Eiermann“ sind auch hier die Grundrisse in einer spannenden Schottenstruktur angelegt, was in einer kompakten Raumaufteilung und einem minimalen Anteil Erschliessungsflächen mündet. Die einzelnen Schotten korrelieren mit der jeweils benötigten Nutzungsbreite der Rauminhalte. Alle weiteren raumtrennenden Elemente funktionieren wie Schränke zwischen den Schotten. Die Schottenbauweise und Nord-Süd-Orientierung der Räume ermöglichen zudem ein effektives Durchlüften der Wohnungen. Die vorgesetzte schmale, begehbare Loggia-Schicht wird sowohl den architektonischen sowie den wohnqualitativen Ansprüchen gerecht; sie funktioniert ebenso als klimatische und räumliche Pufferzone. Dieser konstruktive Sonnenschutz ermöglicht grossflächige Gläser, die eine zu starke Innenraumerwärmung zu verhindern wissen.

Die Wohnungen verfügen über einen grosszügigen Tagesbereich, der sämtliche Nachträume sowie das Büro erschliesst und damit eigentliche Erschliessungsflächen verzichtbar macht. Die Räume haben vielseitige Aussichtsqualitäten und das Schlafzimmer erweitert sich wie der Wohnraum über die südwestlich platzierte Loggia. Wie das Referenzobjekt bestimmen auch hier Klinkerverwendungen sowohl die Aussen- wie Innenerscheinung – Sichtbetondecken unterstreichen diesen materiell rohen Charakter, und die fugenlosen Bodenbeläge verstärken den fliessenden, Blickkorridore öffnenden Grundriss. 

Durch die für dieses Bauprojekt erfolgte Grundstückzusammenlegung vermag sich die Volumetrie zu vergrössern. Das zusätzliche dritte Geschoss schliesst mit einem flach geneigten Dach in die parallel zur Strasse folgenden Giebelrichtung ab. Das grosse Volumen erhält eine selbstbewusste Präsenz mit den gemauerten Wänden und der klaren Schottenstruktur. Die Balkonschichten bilden den Gegenakzent zur prägnanten Vertikalgliederung durch die Schotten – und es entsteht eine Leichtigkeit in der mehrschichtigen Konstruktion, die den hohen Anforderungen einer Quartier-Strassenfassade gerecht wird. Mit den Klinkersteinen, mit Sichtbetonstürzen und -sockel lehnt sich die baulich nachhaltige Substanz auf der einen Seite an die umliegende Typologie der homogenen, massiv und mineralisch erbauten 1950er-Jahre-Häuser an und vermittelt optisch mit der gebauten Umgebung. Ebenso stärkt die farblich zurückhaltende, «rohe» Materialität diese Integration ins Quartier. Auf der anderen Seite überzeugt das Mehrgenerationenhaus mit einer eigenständigen, zeitgemässen und unprätentiösen Architektursprache, die das bestehende Nachbarsgebäude in ein charaktervolles und lebendiges Ensemble einbindet. 

Der Mehrgenerationenneubau meistert die reduzierten Platzverhältnisse mit Sorgfalt und ausgewogenen Lösungen. Entstanden ist ein Gebilde aus ineinander gehenden und voneinander abgrenzenden Raumsequenzen, aus Ablesbarem, Referenziertem – und nicht zuletzt aus Sichtbargemachtem jener geleisteten Nachverdichtung. Sublim verbinden sich hier Vorhandenes und Neues im örtlichen Gefüge zu einer optisch aussergewöhnlichen Kombination. Auch ist die eingesetzte Typologie eine Reminiszenz an eine vergangene Architekturepoche und kann zugleich als Aufforderung gedeutet werden, mit Stadtraum innovativ umzugehen. 

Text: Lukas Bonauer

© Kuster Frey 

Weitere Informationen zu dem Büro finden Sie hier.

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