Mehr als ein Angebot

Auf dem südlichen Ende des ehemaligen Industriegelände Werk 1 des Sulzer-Areals in Winterthur entsteht bis 2025 ein neues Stadtviertel. Über einen Zeitraum von rund zehn Jahren wird hier die Lokstadt realisiert – das erste 2000-Watt-Areal der zweitgrössten Stadt des Kantons Zürich. Mit diesem modernen Stadtraum soll letztlich ein buntes und nachhaltiges sowie dichtes und gleichzeitig grosszügiges Nutzungsprogramm und Zuhause für bis zu 1500 Menschen gewährleistet werden. Zu dem vielfältigen Gebäudeensemble zählen auch das Wohnhochhaus Tender sowie der angrenzende Riegelbau der Zürcher EM2N Architekten, die mit diesem Neubau den industriellen Charme des Areals aufgegriffen und feinfühlig ins Hier und Jetzt transformiert haben.

Im riesigen Baugelände an der Zürcherstrasse in Winterthur, wo die meisten Werkhallen der „Loki“ (SLM) stehen oder standen, entsteht gemäss dem Planungsentscheid von 2015 ein vielfältiges Angebot an Wohn- und Geschäftsbauten, die unterteilt in diverse Baufelder die Handschrift unterschiedlicher Architekten tragen werden. 21‘000 m2 Aussenfläche werden schlussendlich von der Implenia umgestaltet und neu erfunden – im Zentrum bietet der Dialogplatz einen öffentlichen Treffpunkt und sozialen Begegnungsraum, der den Austausch anregen und auch Erholungsraum bieten soll. Abgerundet wird das Angebot durch umliegende Restaurants und Läden, die das bunte Treiben und das Sozialleben der neuen Lokstadt fördern sollen. Das Sulzer-Areal Stadtmitte ist seit dessen Umgestaltung und Öffnung kaum mehr zu erkennen. Das frühere Fabrikquartier ist mit öffentlichen Strassen erschlossen. In diesem neuen Strassennetz ist eine grosse Mischnutzung entstanden. Wohn- und Gewerbenutzung ist heute dominierend.

Dabei wird der Geschichte des Ortes weiterhin Respekt gezollt: Der Name des Areals nimmt dessen Ursprünge als Lokschmiede auf und verbindet die Historie mit dem urbanen, modernen Charakter und der Grösse des zukünftigen Stadtteils. Trotz der Transformation des Gesterns ins Hier und Jetzt geschieht der aktuelle Wandel nicht von heute auf morgen: So verteilen sich die mehreren Bauetappen über einen Zeitraum von rund einer Dekade und orientieren sich mit ihren Namen an den geschichtsträchtigen Zugmaschinen, die einst hier gefertigt wurden. Demnach verwundern die Benennungen der neuen Häuser wie Elefant, Krokodil, Habersack, Tigerli, Bigboy usw. letzten Endes umso weniger. Zu diesen Neubauten gehört auch der  35 Meter hohe „Tender – eines der maximal drei genehmigten Hochhäuser – samt dem angrenzenden fünfgeschossigen Tender-Riegelbau.

Stilvoll gekleidet
Dabei integriert sich dieser Doppelneubau mehr als selbstverständlich in die revitalisierte Umgebung: Denn in Anbetracht des geschichtlichen Hintergrunds des Areals sowie dessen Nähe zu den geschützten Bestandsgebäuden des Sulz-Areals erscheint die Wahl des Klinkers zur Fassadengestaltung als überaus passender Schachzug. Somit kleidet simpler Industriebackstein das formal klar designte Wohnhochhaus, das sich am Zugang des Areals an der Zürcherstrasse behauptet und mit seiner äusseren Erscheinung die Farbe der umliegenden Ziegeldächer aufgreift. Im Stapelverband ziert der rötliche Stein die Hülle des Gebäudes und dient demnach vielmehr gestalterischen Zwecken, als eine tragende Funktion zu übernehmen. Ersichtlich wird dies zudem bei einem genaueren Blick auf das Fugenbild der Steinfassade: Schön übereinander angeordnet bilden die Fugen klare vertikale Linien, betonen damit ebenso die Ausdehnung des Baus in die Höhe und stellen einen Kontrast zur üblichen versetzten Anordnung des Klinkers bei tragender Funktion dar. Trotz der ausschliesslichen gestalterischen Geste innerhalb der Materialwahl wurde dabei dennoch auf die Vollklinker-Variante für die Umsetzung gesetzt und nicht lediglich die Kopfseite der Backsteine vorgeblendet für die Gebäudehülle verwendet. So wird anhand der Materialität vielmehr die Assoziation zum geschichtlichen Hintergrund und Kontext des Areals in den Fokus gestellt und zugleich die gewünschte Betonung der Vertikalität durch das Fugenbild geschaffen – wodurch das historische Bild der Industriearchitektur gleichzeitig in eine moderne Architektursprache übersetzt wird. Hierfür wurde der dezente rote Stein unter anderem mit Metallfenstern in den beiden untersten Geschossen und hellen Holz-Metall-Fenstern in den darüber liegenden Etagen kombiniert. Loggien betonen zudem mit ihren klaren Linien die Fassade in der Horizontalen und setzen mit ihren dunkelgrünen Sonnenstoren zusätzliche Farbtupfer in der Gebäudehülle. Demnach bilden die mit grauen Betonelementen verkleideten Ränder der Geschossdecken durchgehende Horizontalen, zwischen denen sich ein komplexes Geflecht aus vertikalen, unterschiedlich breiten Betonteilen, die mit rostrotem Ziegelmauerwerk verblendet sind, sowie rötlich-braun gefärbten Brüstungen und Stürzen spannt. Einen weiteren farblichen Kontrast präsentiert der etwas niedrigere Tender-Riegel, der sich mit seiner hellen, klassischen Pfosten-Riegel-Fassade zwar klar abgrenzt, jedoch mit der gleichen Rasterung in der Fassade den „grossen Bruder“ weiterführt und die Geschosse somit optisch zusammenhängt. Formal verbinden die durchwegs grossen Fenster, die filigranen Metallarbeiten und der textile Sonnenschutz ebenfalls in einem Grünton die beiden Teile des neuen Gebäudes.

Bitte eintreten
Abseits des Materialmix verleiht auch das Motiv der Lobby dem Neubau einen modernen Charakter, welches die Zone des Erdgeschosses offener wirken und zugleich den Innen- mit dem Aussenraum scheinbar ineinanderfliessen lässt. Dies ist insbesondere im Tender-Hochhaus selbst wahrzunehmen, wo ein grosszügiger Eingangsbereich die Wohnungseigentümer willkommen heisst, mit fliessenden Formen einladender wirkt und mit Wartebänken auch einen Ort zum Verweilen eröffnet. Eine grobe weisse Putzstruktur, eine rohe Betondecke und ein dunkler Bitumenterrazzo prägen das Erscheinungsbild des nicht öffentlichen Eingangsbereichs des Tenders, der von raumhohen Verglasungen an Weite gewinnt und mit Tageslicht ausgehellt wird. Geschwungene Formen und das Kreismotiv – ob als Bullauge oder als abgerundete Ecke zu finden – setzen einen angenehmen und weichen Kontrast zu der linearen Geometrie des Baukörpers. Im angrenzenden hellen Beton-Riegelbau sind im überhohen Sockelgeschoss insgesamt fünf Maisonette-Einheiten untergebracht, die mit ihrer Variabilität punkten: Die Atelierwohnungen samt Luftraum sind sowohl als Wohn- als auch als Gewerberaum nutzbar, bei vor allem Letzterem der Fokus auf die öffentliche Zone rund um den Dialogplatz zu Gute kommt.

Alte Muster durchbrechen
Facettenreich zeigt sich auch die Erschliessung des Hochhauses, wofür das Spiel mit Linien und einfachen Geometrien im Inneren weitergeführt wird – dies wird vor allem bei den Böden der gefangenen, zentralen Korridore ersichtlich. So wurde in jedem Stockwerk gemeinsam mit dem belgischen Künstler Benoît van Innis ein simples, aber dennoch facettenreiches Muster für die Bodenbeläge geschaffen: Verschiedene Variationen schaffen so in jeder Etage mit lediglich versetzt positionierten Farbstreifen und variierenden Linienstärken gemeinsam mit einer rotierten Setzung der Fliesen im Allgemeinen für Abwechslung und greifen zudem mit der grünen Farbgebung der Pattern die Storen auf. Veredelt werden die geschlossenen Zugangsbereiche zu den einzelnen Wohneinheiten obendrein noch durch asymetrische Leibungen der jeweiligen Wohnungstür. An ihrer breiteren Seite wurden die hölzernen additiven Elemente mit Klingeln und Leuchten ausgestattet, sodass der Eingangsbereich eine enorme optische Aufwertung bekommt, an seiner Wertigkeit gewinnt und in gewisser Weise einen Hotelcharakter zugeteilt bekommt.

Eigene vier Wände
Dieser beabsichtigten Wertigkeit spielt zudem die überdurchschnittliche Raumhöhe von 2.60 m in die Karten, die sowohl den gefangenen Korridoren als auch im Weiteren den Eigentumswohnungen eine zusätzliche Grosszügigkeit verleiht. Die Unterschiede der insgesamt 39 Wohnungen des Tenders sind demnach vielmehr in deren Grundrissen und deren Grösse zu finden als in dem von den Eigentümern individuell gewünschten Ausbau. Wenn auch für die 1.5- bis 4.5-Zimmer-Wohnungen ein reduziertes Repertoire unterschiedlicher Ausstattungsmöglichkeiten vorgegeben wurde, präsentiert sich eine jede Wohneinheit dennoch komplett einzigartig. Von dunklen Küchenblöcken über helle Küchenzeilen bis hin zu verschiedensten Bodenbelägen und Materialkombinationen erhält eine jede Wohnung allein schon durch ihre Positionierung und Ausrichtung im Hochhaus ihren komplett eigenen Charakter. Weitere 43 Eigentumswohnungen bieten im angrenzenden Riegelbau Wohnraum, die ebenfalls auf einem formalen Konzept für den Ausbau beruhen, jedoch auch mit unterschiedlichen Oberflächen den Wünschen der Bewohner gerecht werden. Mit diesem Vorgehen – die Auswahl für die Innenausstattung einzugrenzen – konnte ein reibungsloser Bauprozess ohne lange Verzüge gewährleistet und ein termingerechter Einzug garantiert werden. Doch neben der Individualität im Tender-Bau wird hier auch die Gemeinschaft grossgeschrieben, wofür auf dem Dach eine Skylounge zur gemeinsamen Benutzung realisiert wurde. Pflanzentröge mit Küchenkräutern begrenzen zuoberst einen Sitzplatz, von wo aus eine weitreichende Aussicht auf die Agglomeration Winterthurs gegeben ist. 

Ort für Gemeinschaft
Doch nicht nur die Dachfläche wurde für gemeinschaftliche Zwecke genutzt und demnach aufgewertet, sondern auch den unterirdischen Flächen wurde mit kleinen, aber prägnanten Details Leben eingehaucht. Denn insgesamt 80 Prozent der benötigten Parkplätze für die Velos wurden unter dem Erdboden versorgt, grenzen dabei an die gemeinschaftlich genutzte Tiefgarage aller Baufelder an und sind direkt über eine Rampe zugänglich. Diese wurde mit der maximal erlaubten Steigung realisiert und zugleich durch ihre besondere farbige Gestaltung vom Unort zum lebendigen und dynamischen Tunnel gewandelt. Dabei haben die bunten Farbfelder einen funktionalen Hintergrund: Denn die gelb-grünen Dreiecksflächen verdecken die dahinterliegende Gebäudetechnik, betonen zudem die verjüngende Geometrie des schmalen Korridors und saugen einen somit förmlich ins Gebäudeinnere ein – und er kann bei Schlechtwetter selbst zur Rennstrecke für die Kleinsten mutieren. Zum Spielen und Toben lädt vielmehr auch die neu etablierte Gasse zwischen dem Tender-Hochhaus und der bereits bestehenden, denkmalgeschützten Draisine ein, wo nun ein halböffentlicher Bereich geschaffen wurde und dabei als weiterer Zugang zu den dort untergebrachten zwei Kindergarten- und zwei Primarschulklassen dient, wobei der Kindergarten in der denkmalgeschützten Halle 1007 zudem über einen Aussenbereich auf dem Dach verfügt. Ausgeleuchtet wird die neu gestaltete Gasse von niedrig hängenden Lampen, welche den geschützten Aussenraum überspannen und damit auch im Dunkeln für eine angenehme Atmosphäre sorgen. Zugleich dient der neu ausformulierte Aussenraum als eine Art informeller Zu- und Durchgang, der die öffentlichen Gassen, Höfe und Plätze des neuen Geländes miteinander verbindet. Und da diese Fläche nicht als Rettungsgasse dient, kann durch Bestuhlung und Co. die Gasse zum separierten Treffpunkt im öffentlichen Raum der Lokstadt für die Bewohner gewandelt werden.

Vielfältiges Angebot
Nomen est omen – und manchmal doch auch mehr. So ist der Tender mehr als wortwörtlich übersetzt lediglich ein simples Angebot für jene, die ein Eigenheim in Winterthur suchen. Mit seiner Vielfalt – auch im Detail – sowie seiner facettenreichen Umgebung verknüpft das neue Wohnhochhaus den geschichtsträchtigen Kontext des Areals mit einer modernen, urbanen Wohnatmosphäre. Ob Alt oder Jung, ob Wohnen oder Arbeiten, ob Rückzugsort oder sozialer Treffpunkt, ob Industriechic oder traniger Materialmix – an diesem Ort kommt jeder auf seine Kosten.

©Damian Poffet

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