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Kultivierte Wildnis

Unsere Flora wird immer eintöniger. Vor allem im Siedlungsgebiet sinkt die Zahl der Pflanzenarten, zwischen den Häusern dominieren Rasenflächen. Dies ist viel mehr als nur ein gestalterisches Problem, denn die Monokultur wirkt sich auch auf die Artenvielfalt aus. Um Biodiversität zu erreichen, zählt jeder Quadratmeter. In der Thurgauer Gemeinde Eschlikon zeigt ein Pilotprojekt, wie man pragmatisch und mit einfachen Massnahmen eine naturnahe Vielfalt erreichen kann.

Die Situation ist dramatisch: Die Artenvielfalt ist in stetem Rückgang, und vor allem das Insektensterben hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant beschleunigt. Pro Natura gibt an, dass der Mensch die Population der Insekten bereits um bis zu 75 Prozent dezimiert hat, 40 Prozent der untersuchten Insektenarten in der Schweiz gehörten zu den sogenannten gefährdeten Arten. Als Gründe für diesen Rückgang nennt die Naturschutzorganisation die intensive Landwirtschaft, den Verlust von Lebensräumen – hauptsächlich durch die Bautätigkeit – und die Lichtverschmutzung. Lange Zeit war dieses dramatische Insektensterben nur in der Fachwelt bekannt, doch mit seinem Film „More than Honey“ brachte der Schweizer Regisseur Markus Imhoof das Thema 2012 auf die Agenda.

Diese dramatische Entwicklung ist direkt mit der Biodiversität verknüpft – und damit auch ein Thema der Bauwirtschaft. Denn ein ausgeprägter Sinn für Ordnung hat unsere Orte und Siedlungen fest im Griff: Die erdrückende Mehrheit der Aussenräume zeigt sich mit akkurat getrimmten Rasenflächen, hier und dort hübscht eine vereinzelte Forsythie oder ein Sommerflieder – mithin zwei Neophyten – das Abstandsgrün auf. Die Akkuratesse, mit der die Hauswarte gegen jegliche Störung der einheitlichen Rasenflächen vorgehen, scheint das Gradmass für die Güte ihrer Arbeit zu sein. Alles muss seine Ordnung haben. Diese Haltung mag zwar das Auge der Verwaltung erfreuen, doch für die Insektenwelt und für die Artenvielfalt ist diese Monokultur verheerend – nicht zu sprechen von all den Schottergärten, die sich rund um die schmucken Einfamilienhäuser breitmachen.
Gesellschaft und Politik haben in der Zwischenzeit reagiert. So hat der Bundesrat im September 2017 einen Aktionsplan zur Strategie Biodiversität verabschiedet. Das Dokument sieht vor, die Artenvielfalt als ökologische Infrastruktur zu verstehen, die gefördert werden muss. Zudem möchte der Bundesrat eine Brücke zwischen den verschiedenen Politikbereichen des Bundes schlagen – wie Landwirtschaft, Raumplanung, Verkehr und wirtschaftliche Entwicklung – und auf breiter Front für das Thema sensibilisieren. Dafür stellt der Bund auch Mittel zur Verfügung.

Doch erst wenige Projekte konnten seither auch umgesetzt werden. Interessanterweise sind es vor allem die Städte, die darauf reagiert haben. Schon oft hat sich gezeigt, dass der Naturschutz besonders dort ein Anliegen ist, wo die Natur nicht direkt vor der Haustür anzutreffen ist. So nennt zum Beispiel Grün Stadt Zürich seit geraumer Zeit die Biodiversität ein zentrales Ziel seiner Bestrebungen, und auf vielen öffentlichen Grünflächen der Stadt hat die Vielfalt der Bepflanzung merklich zugenommen.
Schwieriger ist es da in den ländlichen Gegenden der Schweiz, wie zum Beispiel im landwirtschaftlich geprägten Kanton Thurgau. Die Nähe zur Landwirtschaft und den dort eingesetzten Pestiziden schadet auch der Pflanzen- und Tierwelt in den Siedlungen. Zudem teilen viele Bauern die Begeisterung für sorgfältig gepflegte Landschaften mit den Hauswarten, was sich in ordentlich herausgeputzten Weg- und Waldrändern äussert.

Pilotgemeinde Eschlikon
Doch auch in der Ostschweiz war man nicht untätig geblieben – es gibt bereits seit 2009 ein Monitoring des Kantons Thurgau zur Erhebung der Biodiversität, und 2018 hat das Amt für Raumentwicklung die Initiative „Vorteil naturnah“ ins Leben gerufen, bei der es um die naturnahe Gestaltung von Aussenräumen und Freiflächen geht. Auf einer eigens dafür aufgesetzten Homepage informiert der Kanton über das Projekt. Und auch auf Gemeindeebene gibt und gab es immer wieder Projekte, die sich diesem Thema gewidmet haben. Doch die drei föderativen Ebenen dieser Biodiversitätsstrategie fanden nur ganz selten zusammen. Um konkrete Projekte zu befördern, um Bewegung in die Strategie zu bringen und um diese Bestrebungen schlüssig miteinander zu verbinden, hat der Kanton nun zusätzliche Mittel bereitgestellt. 2018 konnte mit der Südthurgauer Gemeinde Eschlikon eine Partnergemeinde für ein Pilotprojekt gewonnen werden, um auf ihren öffentlichen Grünflächen mehr Biodiversität zu erreichen.

Die Homepage nennt für das Projekt folgende Absichten: „Ziel des Pilotprojekts war es, ein praxisorientiertes und pragmatisches Vorgehen zur Umwandlung dieser konventionellen Flächen in naturnahe Aussenräume und Grünflächen zu entwerfen und zu prüfen. Das Projekt lieferte einerseits Grundlagen und Erkenntnisse für die Planung und Umsetzung. Darüber hinaus war Praxistauglichkeit insbesondere hinsichtlich des anschliessenden Unterhalts und der Pflege von grosser Wichtigkeit.“

So weit die Absicht. Doch wie geht man so ein Projekt konkret an? Für die Entwicklung und Realisation dieses Pilotprojekts engagierte der Kanton die Winterthurer Firma Grüngold, die sich mit ihren Fachplanerinnen und Fachplanern für Landschaftsgestaltung sowie Unterhalt und Pflege als Generalunternehmer für naturnahe Aussenräume spezialisiert hat. Da die Firma alle Projektphasen – Entwicklung, Umsetzung, Pflege, Schulung, Information und Kommunikation – abdeckt, konnte Grüngold zusammen mit dem Amt für Raumentwicklung die Inhalte von „Vorteil naturnah“ entwickeln und dafür ihr Programm unter dem Namen „Conversion“ adaptieren, was so viel wie Übergang oder Verwandlung bedeutet. Dieser Wandel erfolgt in fünf methodischen Schritten: Bestandesaufnahme, Massnahmendefinition, Pflegeplan, Schulung, Kommunikation.

Als Erstes entstand also ein umfassendes Inventar aller öffentlichen Grünflächen der Gemeinde. In ausführlichen Datenblättern wurden zusammen mit einem Foto die Grösse der Fläche und die aktuelle Bepflanzung mit den jeweils wichtigsten Angaben festgehalten, wie zum Beispiel Exposition und Humusstärke. Zudem umreisst das Datenblatt das Potenzial der jeweiligen Grünfläche, die damit verbundenen Unterhaltsarbeiten, und es hinterlegt beides mit einer groben Kostenschätzung sowie einer zeitlichen Verteilung für die Umsetzung und die nachfolgende Pflege. Dieses Grundlagenpapier bildet die Basis für die weitere Planung, und es stellt gleichermassen feinkörnige Informationen sowie eine Gesamtschau über die ganze Gemeinde bereit. Zudem ermöglicht es, die Einsätze für die Unterhaltsequipen zu planen.

Auch wenn die einzelnen Flächen für sich genommen nicht riesig sind, kommt eine beachtliche Fläche zusammen. Im Falle von Eschlikon summieren sich die öffentlichen Grünräume und Freiflächen auf insgesamt eine Hektare. Diese umfassen Parks und Rasenflächen von Schulen und Gemeindegebäuden, aber auch Grünstreifen entlang der Strassen und der Bahnlinie – teilweise auch Dachflächen von Kleingebäuden, die im Moment noch nicht begrünt sind. Die vorgeschlagenen Massnahmen wiederum umfassen Wildblumenstreifen, Bepflanzungen mit heimischen Hecken, Magerwiesen, den Wechsel von Rasen zu Wiese und – wo möglich – auch die Umsetzung von sogenannten Ruderalflächen, auch als brachliegende Rohbodenflächen bekannt. Je nach Standort und Nutzung eignen sich andere Massnahmen, und nicht alles lässt sich überall verwirklichen.

Der Faktor Zeit 
In Eschlikon wurde ein Mix dieser Massnahmen umgesetzt: Den Rasen um das Gemeindehaus lockern Streifen von Wildblumen auf, statt einer einheitlichen Hecke begrenzen ihn nun verschiedene standortgerechte Gehölze; an der steilen Böschung hinter der Bahnhofsunterführung wachsen vereinzelte Sträucher aus dem kargen Boden, und hinter der Bushaltestelle am Bahnhof zeigt sich die Biodiversität in einem scheinbar wilden Durcheinander von Gräsern und Blüten. Die Strasse entlang der Bahnlinie ziert ein zerzauster grüner Streifen. Der Begriff der Diversität bezieht sich nicht nur auf die Pflanzen, sondern auch auf die Art der Massnahmen.

Als Folge dieser Vielgestaltigkeit bildet der Eingriff in die Landschaft nicht ein schlüssiges Gesamtbild, der Zugang zeichnet sich vielmehr durch eine pragmatische und unkomplizierte Haltung aus, die den Einzelfall berücksichtigt. Und wie immer im Bereich von Grünflächen heisst es nun, Geduld walten zu lassen und erst einmal auf das fertige Bild zu warten. Vieles sah diesen Herbst noch etwas schütter und unfertig aus, und vor allem die Rabatte an der Bushaltestelle hinter dem Bahnhof hinterliess einen ungewohnt wilden Eindruck: verblühte, gräuliche Stauden überragten die Reste des tieferen, bodennahen Bewuchses.

Besonders die mageren Blumenwiesen brauchen zwei bis drei Jahre, bis sich eine Artenvielfalt etabliert hat. Doch das bedeutet nicht, dass man die Natur in der Zwischenzeit sich selbst überlässt. Auch die naturnahen Flächen benötigen einen Unterhalt – dieser sieht jedoch anders aus als bei homogenen Rasenflächen, und er erfolgt auch zu einem andern Zeitpunkt. Vor allem zu Beginn der Verwandlung muss der Mensch korrigierend eingreifen, damit nicht einzelne gross wachsende Pflanzen Überhand nehmen und die tiefer gelegenen Schichten verschatten. Dem Unterhalt kommt in diesem Konzept ohnehin eine völlig andere Bedeutung zu, und er benötigt weniger Eingriffe, aber mit anderem Fachwissen. Deshalb umfasste das Pilotprojekt auch die Schulung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Werkhofs. Dies ist ein Schlüsselelement des Projekts – ohne einen angepassten Unterhalt wird sich die Artenvielfalt nicht einstellen.

In diesem Punkt unterscheidet sich das Experiment in Eschlikon nicht von andern landschaftsplanerischen Eingriffen. Es ist nicht damit getan, dass man ein paar Pflanzen einsetzt. Erst durch die umsichtige und regelmässige Pflege erreicht das Projekt seine Form. Die Gemeinde Eschlikon hat diesbezüglich Glück: Jüngst hat sich ein Gartenbaubetrieb im Ort niedergelassen, der sich auf Naturgärten spezialisiert hat. Der junge Gärtner war bereits bei der Erstellung der verschiedenen Projektbereiche involviert, sein Wissen und Können wird bestimmt auch in den folgenden Jahren entscheidend zum Erfolg der Umsetzung beitragen. Was den Aufwand betrifft, hat die Planung von Grüngold bestätigt, was bei vielen Entscheidern im Immobilienbereich kaum bewusst ist: Die Kosten für Pflege und Unterhalt sind generell tiefer, wenn man sich für eine Blumenwiese anstelle eines Rasens entscheidet oder auf Wild- statt Formhecken setzt. Das zeigen die Schätzungen der bereits erfolgten Bestandsaufnahmen ebenso wie die Erfahrungen, die die Firma in den letzten Jahren mit vergleichbaren Konzepten machen konnte.

Kommunikation
Neben der Planung und der Umsetzung stand vor allem die Kommunikation im Zentrum des Projekts. Man kann sich gut vorstellen, dass dieser Paradigmenwechsel in der Bewirtschaftung und im Unterhalt der Grün- und Freiflächen einer Gemeinde einige Diskussionen auslösen wird. Insbesondere, wenn man sich bisher an die oben erwähnte Akkuratesse gewöhnt war. Auch in diesem Punkt diente die Planung in Eschlikon als Pilotprojekt: Dank der Förderung durch den Kanton konnte ein Argumentarium für die häufigsten Eingriffe erstellt werden. Metalltafeln erklären an jedem Standort, welche Vorteile für die Diversität die jeweilige Bepflanzung mit sich bringt. Dank einem QR-Code landen Interessierte auf einer speziellen Landingpage mit vertieften Informationen. Dieses Infopaket steht nun allen Gemeinden zur Verfügung, die an der Initiative „Vorteil naturnah“ teilnehmen möchten.

Das Projekt des Amtes für Raumentwicklung in Eschlikon ist eine Pilotanlage. Sie zeigt vor Ort auf, wie Aussenräume und Freiflächen im Siedlungraum naturnah umgewandelt werden können. Die Eingriffe zeigen anschaulich, welche Antworten für unterschiedlichste Szenarien möglich sind. Wenn jede noch so kleine Fläche für die Artenvielfalt zählt, dann sollte aber die naturnahe Gestaltung nicht bei Gemeinden haltmachen. Grüngold konnte ähnliche Konzepte bereits für Wohnbaugenossenschaften wie auch für private Immobilienunternehmen umzusetzen. Und je früher in der Planung die naturnahe Gestaltung von Aussenräumen ein Thema ist, desto einfacher lassen sich die Anforderungen der Biodiversität in die Planung einbinden.

Es ist also keine planerische Hürde – zentral ist der Wandel in der Mentalität: Man muss diese Artenvielfalt wollen und der Natur ihren Platz lassen. Dann profitieren alle: Wenn Gemeinden, Investoren und Immobilienunternehmen sich vermehrt für naturnahe Aussenräume und Freiflächen entschliessen, dient dies ebenso den Pflanzen und Insekten wie es auch das Budget schont. Mehr ist manchmal weniger.

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