„Ein Gebäude wird zu Architektur, wenn es eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringt.“ (Armando Ruinelli) – In unserem Format Vis-à-Vis sprechen Schweizer Architektinnen und Architekten über die verschiedenen Gesichtspunkte ihres Berufs und beantworten Fragen zu ihrer Idee von Schönheit und der Rolle, die sie in der Gesellschaft einnehmen.
Welche Aufgaben beschäftigen Sie gerade?
Eines der Projekte, an denen wir zurzeit arbeiten, ist besonders interessant. Es handelt sich um ein mit drei Wohngebäuden belegtes Gebiet am Bodensee. Bei diesem Projekt haben wir zum ersten Mal die Möglichkeit, mit den typologischen Variationen der Wohnungen zu arbeiten und gleichzeitig die Identität der Wohnungen beizubehalten. Diese bildet den gemeinsamen Nenner. Die Häuser unterscheiden sich durch ihre Grösse und Architektur voneinander. Wenn es aber um die Materialien und die Details geht, sprechen sie die gleiche Sprache.
Ein weiteres Projekt, mit dem wir uns zurzeit befassen, ist der Umbau eines Stalls in eine Wohnung. Durch die neuen Bestimmungen der Zweitwohnungsinitiative entsteht ein Identitätsproblem für die umgebauten Gebäude und den Kontext, in den sie eingebettet sind. Wenn man eine Wohnung betritt, die früher ein Stall war, sollte man sich wie in einem Haus fühlen, finde ich.
Welches architektonische Werk hat Sie kürzlich begeistert?
Ein Gebäude auf der Insel Elba, in dem öffentliche Toiletten untergebracht sind. Dieses Gebäude hat mich besonders beeindruckt, weil es ein kleiner Kunstbau ist. Es war ursprünglich als Lager angedacht, wurde dann aber in eine WC-Anlage umgewandelt. Im Inneren wurden schlichte, weisse Fliesen verwendet. Die Aussenwände sind rötlich verputzt, und das Walmdach ist lediglich mit einer Dachpappe versehen, die gegenüber den Mauern leicht vorspringt. Sukkulenten bilden die üppige Vegetation um das kleine Gebäude herum, das sich perfekt in die Landschaft einfügt. Dieses Beispiel einheimischer Architektur gefällt mir. Das Gebäude vermittelt den Eindruck, als würde es seit jeher dort stehen.
Inwiefern unterstützen oder behindern neuartige Materialien die Architektursprache?
Während der Projektierung sind die neuen Materialien völlig unerheblich, auch wenn ich die Überlegungen zur Materialisierung ziemlich früh im Planungsprozess miteinbeziehe. Ich bin gegenüber den neuen Materialien unvoreingenommen. Dennoch verwende ich sie nur ungern als expressive Mittel bei Oberflächen, die man sieht und berührt, wie Böden, Decken und Fassaden, denn oft altern die Oberflächen dieser Materialien schlecht. Sie können das „Vergehen der Zeit“ nicht erzählen. Wenn ich an das Material für ein Projekt denke, denke ich immer auch daran, wie es altern wird, und an die Patina, die sich im Laufe der Zeit auf der Oberfläche bilden wird. Deshalb verwende ich die neuen Materialien vorwiegend aus technischen Gründen. Ich betrachte sie als neutral und verleihe ihnen meistens weniger einen architektonischen Wert.
Haben Sie eine Idee von Schönheit?
Nein, ich habe keine genaue Vorstellung davon. Schönheit ist einfach da und hat manchmal nichts mit Architektur zu tun. Ich kann z.B. jemanden schön finden, auch wenn er oder sie es – nach dem ästhetischen Massstab – nicht ist. Auch in der Architektur kann etwas scheinbar Nebensächliches schön sein.
Wann wird ein Gebäude zu Architektur?
Ein Gebäude wird zu Architektur, wenn es eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringt, wenn Form, Komposition, Farben und auch Gerüche im Einklang stehen und dadurch eine Stimmung und/oder Emotionen entstehen.
Welche Tugenden sollte ein Architekt erfüllen?
Der Architekt ist wie ein Hausarzt, ein Allgemeinmediziner. Er müsste in der Lage sein, die Bedürfnisse des Auftraggebers zu erkennen. Die sind nicht immer klar, auch dem Auftraggeber nicht. Der Architekt müsste zuhören und verstehen können, was der Auftraggeber möchte. Gleichzeitig muss er auch die Landschaft, den Ort und das Bestehende berücksichtigen und dann alles in die Planung einfliessen lassen. Es gilt, alle Elemente, die ein Gebäude prägen, in einer einzigartigen Sprache zusammenzufassen.
Welche Rolle spielt der Architekt in der Gesellschaft?
Der Architekt ist mitverantwortlich für den Landschaftswandel. Er gestaltet die Natur und nimmt in mehr oder weniger intelligenter Weise Einfluss auf den Ort, also etwas, was allen gehört. Ein Gebäude ist Eigentum des Bauherrn, aber als Teil der Landschaft und Umwelt gehört es allen. Von dieser Warte aus kommt dem Architekten eine grosse Verantwortung zu, und er kann mit gut umgesetzten und in sich schlüssigen Projekten einen wichtigen Beitrag leisten.
Welche Rolle sollte heute die Politik gegenüber der Architektur spielen?
Die Politik sollte mit Bedacht handeln und versuchen, Schützenswertes zu bewahren und gleichzeitig die Erneuerung von Bestehendem zu fördern. Sie müsste einerseits die Angst vor dem Neuen überwinden und andererseits noch konsequenter und strenger sein, wenn es um schützenswerte Kulturgüter geht. Ich stelle jedoch fest, dass tendenziell alles ein wenig geschützt wird – wie z.B. beim bereits erwähnten Umbau von Ställen in Wohnungen –, anstatt die zeitgenössische Architektur zu fördern.
Kann Architektur die Welt verbessern?
Ja, sie kann sie verbessern, aber auch verschlechtern. Nicht alle Gebäude wurden optimal entworfen. Im Gegenteil. Der Grossteil des Bauwesens ist zu einem rein finanziellen Geschäft geworden. Wenn der Architekt zum Anbieter einer Dienstleistung wird, die sich nur noch auf Bau- und Finanzbestimmungen stützt, wird er kaum einen Beitrag für eine bessere Welt leisten können.
Das Atelier Ruinelli Associati Architetti ist im Jahr 2000 aus dem vormaligen Studio Armando Ruinelli (Architekt BSA-SIA-SWB) in Partnerschaft mit Fernando Giovanoli (Arch. HTL) hervorgegangen. Das Büro hat seinen Sitz in Soglio GR und beschäftigt insgesamt 4-5 Architektinnen und Architekten. Es arbeitet an öffentlichen und privaten Aufträgen in der Schweiz und im Ausland. Armando Ruinelli ist zudem in der Lehre tätig, zurzeit an der Fachhochschule Graubünden, und er ist Mitglied verschiedener Beiräte für Architektur und Landschaft.