Im Gespräch mit Norma Tollmann

„Schön ist, was zum guten Leben beiträgt“ (Norma Tollmann) – In unserem Format Vis-à-Vis sprechen Schweizer Architektinnen und Architekten über die verschiedenen Gesichtspunkte ihres Berufs und beantworten Fragen zu ihrer Idee von Schönheit und der Rolle, die sie in der Gesellschaft einnehmen.

Welche Aufgaben beschäftigen Sie gerade?
Hauptsächlich war und bin ich mit Wohnbauten beschäftigt. Nachdem ich sehr lang am Neubauprojekt Wohnhaus Stadtkind in Basel gearbeitet habe, plane ich im Moment, neben gelegentlichen Wettbewerben, zwei kleinere Umbauvorhaben für Private. Ausserdem prüfe ich in Zusammenarbeit mit Studio Raphaela Schacher die Machbarkeit der Sanierung eines Stadthauses in Basel und dessen Aufstockung mit dem Ziel, diesen spezifischen, bezahlbaren, städtischen Wohnraum zu erhalten und durch neuen zu verdichten.

Welches architektonische Werk hat Sie kürzlich begeistert?
Kürzlich wieder und schon lange begeistert mich die Davidsbodensiedlung (1991) in Basel von den Architekten Erny, Gramelsbacher und Schneider. In meinen Augen stellt sie eine beispielhafte Aufwertung des damaligen St.-Johanns-Quartiers dar, von der das Quartier bis heute und in Zukunft profitiert. Das ist partizipative und nachhaltige Architektur, angemessen und lebensfreundlich. Heute würde man die Siedlung wahrscheinlich in Holz oder als Hybrid bauen, aber ansonsten fände ich eine Neuauflage wünschenswert.

Inwiefern unterstützen oder behindern neuartige Materialien die  Architektursprache?
Ich kombiniere gern unterschiedliche Materialien – ob neuartig oder althergebracht, spielt erst mal keine Rolle – und das prägt den architektonischen Ausdruck und die spezifische räumliche Qualität. Von allem Guten in Massen. Ich achte bei der Wahl der Materialien auf einen der Aufgabe gerechten Einsatz, auf die dem Material inhärente graue Energie, die geografische Herkunft und die Möglichkeit zur Wiederverwendung bzw. die Vermeidung von Sondermüll im Fall eines späteren Abrisses. Das geht bis zur Oberflächenbehandlung. 

Haben Sie eine Idee von Schönheit?
Die Architektur betreffend glaube ich, schön ist, was zum guten Leben beiträgt, und ist somit immer vom spezifischen Kontext abhängig.

Wann wird ein Gebäude zu Architektur?
Das ist eine grosse Frage, die ich in diesem Umfang nicht für mich zufriedenstellend beantworten kann.

Welche Tugenden sollte ein Architekt erfüllen?
Ich glaube, eine grosse Rolle kommt der Kommunikation zu. Als Architekt:innen sind wir oft in vermittelnden  und verknüpfenden Positionen. Daher ist eine wertschätzende, ehrliche Kommunikation auf Augenhöhe unabdingbar für den Erfolg eines Projektes. Ich mag es nicht, falsche Versprechungen zu machen, und bin für einen offenen Umgang mit Fehlern. Wo wir dann bei der Verantwortung sind. Als Gesellschaft sehen wir uns mit enormen Herausforderungen konfrontiert neben einem ständigen Gewinn an neuen Erkenntnissen. Um zeitgemässe Lösungen zu erarbeiten, muss ich als Architektin stets offen sein, auch wenn ich mich dann für einen etwaigen althergebrachten Weg entscheide. Jedes Projekt birgt einen spezifischen Lernprozess und Erkenntnisgewinn. Wir sind mit jeder Lösung, die wir erarbeiten, mitverantwortlich dafür, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickelt. Daher Offenheit und Verantwortung.

Welche Rolle spielt der Architekt in der Gesellschaft?
Als praktizierende Architektin, die nicht in der Lehre tätig ist, empfinde ich es als meine Aufgabe, Gebäude so zu entwickeln oder weiterzuentwickeln, dass sie ihrer dem Ort und ihrer Nutzung inhärenten, städtebaulichen Bedeutung gerecht werden und ihren Zweck sinn- und verantwortungsvoll erfüllen. Wenn ich diese Aufgabe mit Einfühlung, Sorgfalt und der gebotenen Verantwortung unserer Umwelt gegenüber bewerkstellige, entsteht bestenfalls etwas Schönes, das das Leben seiner Nutzer – direkt und peripher – bereichert und zu ihrem Wohlbefinden beiträgt. Das empfinde ich als eine gesellschaftliche Aufgabe.

Welche Rolle sollte heute die Politik gegenüber der Architektur spielen?
Meiner Meinung nach besteht dringende Notwendigkeit für mehr Entschiedenheit in der Politik. Der politische Wille, den oft verheerenden Praktiken des Bauwesens Einhalt zu gebieten und die Entwicklung gesamtgesellschaftlich verträglicherer Alternativen zu unterstützen, ist mir viel zu zaghaft. Die Umsetzung klimapositiver, politischer Errungenschaften ist mir zu zögerlich. Der Schlüssel zu einem verantwortlicheren, gesamtgesellschaftlich nachhaltigeren Bauwesen liegt für mich ganz klar in der Politik. Die Zerstörung ist immens, der Handlungsbedarf riesig, und die Zeit drängt.
Ich habe grossen Respekt vor allen Kollegen, die selbst aktiv werden, die die Missstände in den Schulen thematisieren und ihre Lehre darauf anpassen, die in ihrer Praxis ihren Überzeugungen konsequent treu bleiben und /oder die sich an der Debatte um klimaverantwortliches Bauen beteiligen.

Kann Architektur die Welt verbessern?
Ich denke, nein. Sie kann eine Gesellschaft unterstützen und bestenfalls das Leben der Menschen verbessern. In Bezug auf die Welt bedeutet sie in ihrer Hauptsache Zerstörung. Als Architektin versuche ich, nach meinem besten Wissen und Gewissen Luigi Snozzis Aufforderung zu folgen: „Jeder Eingriff bedingt eine Zerstörung, zerstöre mit Verstand.“

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