“Will man nachhaltig bauen, muss man einfacher bauen.” (Lukas Raeber) – In unserem Format Vis-à-Vis sprechen Schweizer Architektinnen und Architekten über die verschiedenen Gesichtspunkte ihres Berufs und beantworten Fragen zu ihrer Idee von Schönheit und der Rolle, die sie in der Gesellschaft einnehmen.
Welche Aufgaben beschäftigen Sie gerade?
Wir arbeiten meist an mehreren spannenden und vielseitigen Projekten parallel. Daher wechseln sich intensivere Phasen mit Zeiten ab, in denen wir Arbeiten auch eine Zeit lang weglegen, um Raum zum Reflektieren zu gewinnen. Im Moment bauen wir, basierend auf einem gewonnenen Wettbewerb, eine Schule im Zürcher Oberland: Das Konzept des Neubaus ist eine Mischung aus Betonbauweise und nachhaltigem Holzbau, wobei die Materialisierung jeweils den jeweiligen Nutzen widerspiegelt. So ist der massive Beton für die Zirkulation und die öffentlichen Lernbereiche vorgesehen, während der Holzbau die privateren Klassenzimmer aufnimmt. Die Kombination und das Zusammenwirken der Materialien sind ein Thema, das uns besonders interessiert und zugleich einen fruchtbaren Nährboden für klare Konzepte und eigenständige Projekte bietet. Ein weiteres aktuelles Projekt ist ein Einfamilienhausneubau auf einer sehr kleinen Parzelle. Auch hier nutzen wir die Materialeigenschaften, um die unterschiedlichen Wohn- und Aufenthaltsbereiche des Hauses zu zeigen.
Welches architektonische Werk hat Sie kürzlich begeistert?
Das kleine Museum La Congiunta am Dorfrand von Giornico in der Leventina im Tessin, das 1992 nach Plänen von Peter Märkli und Stefan Bellwalder erbaut wurde. Das Museum ist sehr einfach gehalten und für die Kunst des Schweizer Bildhauers Hans Josephsohn konzipiert. Man muss den Schlüssel in der Osteria von Giornico abholen und besucht dann allein, ohne andere Besucher, die Räume. Die Einfachheit, die Radikalität und die Autonomie, wie das Haus funktioniert, faszinieren mich.
Inwiefern unterstützen oder behindern neuartige Materialien die Architektursprache?
Jedes neue Material birgt die Chance, Architektur weiterzuentwickeln. Materialien haben unterschiedliche Eigenschaften und ziehen folglich neue Ausdrücke mit sich. Die breite Verwendung von Eisenbeton um 1900 ermöglichte grossflächige Fensterbänder und hatte zur Folge, dass Lochfassaden abgelöst wurden. Diese Entwicklung hat unsere Bauweise massiv beeinflusst. Den gleichen Einfluss wird der Einbezug von rezyklierten Bauteilen und neuartigen, nachhaltigen Baustoffen haben – erst kürzlich haben wir ein Mehrfamilienhaus nach Prinzipien von „Urban Mining“ fertiggestellt. Dieser Idee liegt die These zugrunde, dass alle zur Herstellung eines Gebäudes benötigten Ressourcen wenn möglich wiederverwendbar, wiederverwertbar oder kompostierbar sein sollen. Diese Prinzipien beeinflussen die Planung und den Bau des Hauses grundlegend: So werden generell keine Bauteile fest mit dem Untergrund verklebt, sondern geschraubt und demontierbar ausgebildet. Das Projekt hat sich über einige Jahre entwickelt, und wir konnten gemeinsam mit der Bauherrschaft, welche eine Spenglerei betreibt, viele Detailstudien und Experimente mit Materialien durchführen – neue Materialien testen oder Baustoffe für Zwecke verwenden, für welche sie nicht ursprünglich bestimmt waren. Rückblickend war dies eine grosse Chance und hat uns dabei in unserem Weg bestärkt, einfacher zu bauen, neu zu kombinieren und überflüssige Elemente wegzulassen, was die Projekte letztlich im Kern reichhaltiger macht. Dieser Bau hat folglich durch neue Materialexperimente unsere Architektursprache weiterentwickelt.
Haben Sie eine Idee von Schönheit?
Schönheit ist für mich ein Zeitzeuge, sodass sie meiner Definition nach in stetem Wandel ist. Viel Inspiration finde ich zudem in Kunstwerken oder Produktdesign: Die unterschiedlichen Strömungen und Inspirationen reflektiere ich aber stets, da ich eine sehr vitruvianische Grundhaltung habe; ein Werk muss fest und nützlich sein und dabei auch schön anmuten. Schönheit assoziiere ich also stets mit einem Nutzen, damit es für mich schlüssig und langlebig ist.
Wann wird ein Gebäude zu Architektur?
Für mich ist etwas Gebautes bereits mit dem ersten Loch, das gegraben wird, oder dem ersten Stein, der gelegt wird, Architektur. Ob fertig oder als Ruine unvollendet. Von Menschenhand geschaffen, hat es Einfluss auf die unmittelbare Umgebung. Dabei entsteht umgekehrt ein spannungsvolles Beziehungsnetz. Ein Spielplatz, an dem die Quartierbewohner weiterbauen, wodurch sie sich das „Gebaute“ aneignen, ist für mich auch Architektur.
Welche Tugenden sollte ein Architekt erfüllen?
Architekturschaffende sollten Neuem gegenüber aufgeschlossen und experimentierfreudig sein. Es ist wichtig, dass sie unvoreingenommen auf die ihnen gestellte Aufgabe eingehen und diese mit all ihrem Wissen und ihren Inspirationen kreuzen. Wir arbeiten bei allen unseren Projekten in Kollaborationen, also mit Landschaftsarchitekten, Bauingenieuren, Kunstschaffenden etc., die alle ihr Wissen einbringen. Denn erst im Dialog wird jedes einzelne Projekt bereichert und vollendet. Somit schaffen wir ein für die Situation, den Nutzen und den Ausdruck spezifisch entworfenes Projekt.
Welche Rolle spielt der Architekt in der Gesellschaft?
Alles, was wir bauen, ist ein Zeitzeuge, der meist über viele Jahre bestehen bleibt und mit dem sich stets wandelnden Kontext in Dialog tritt. Wie wir folglich auf die uns gestellten Aufgaben baulich antworten, hat eine vielschichtige Wirkung auf die Gesellschaft. Es ist dabei unsere Verantwortung, auf die uns gestellten Aufgaben ressourcenschonend zu antworten und baulich nachhaltige Lösungen zu finden. Gut nutzbare und langlebige Projekte, welche sich über Zeit auch unterschiedlichem Nutzen anpassen können, sind daher der Schlüssel unseres Schaffens und zeichnen unsere Projekte aus.
Welche Rolle sollte heute die Politik gegenüber der Architektur spielen?
Wir sind in der Schweiz mit einer steigenden Bevölkerungszahl konfrontiert und stehen entsprechend unter Druck, Wohnraum zu schaffen. Zudem müssen wir sorgsam mit unseren Ressourcen umgehen und nachhaltig bauen. Es ist die Aufgabe der Politik, hier den Weg für einfacheres Bauen, insbesondere im Hinblick auf nachhaltige Bauweisen, zu ebnen. Sie sollte deshalb Normen und Gesetze – die definieren, wie wir bauen – hinterfragen und anpassen. Beispielsweise bei einem Mehrfamilienhaus gelten hohe Anforderungen an den Schallschutz. Mieter im Neubau sollen sich auf keinen Fall hören, obwohl dies in jedem Altbau üblich ist. Ein hoher Schallschutz schlägt sich jedoch in einem vielschichtigen, meist verklebten Boden- und Wandaufbau nieder, sodass komplexere und ressourcenintensive Details mit längerer Bauzeit die Folge sind. Nicht jeder Mieter oder Eigentümer braucht oder möchte diese Standards. Die Politik muss nun die Rahmenbedingungen neu definieren und einfacheres Bauen ermöglichen beziehungsweise den Bauträgern mehr Eigenverantwortung überlassen. Urban Mining und das Bauen für die Kreislaufwirtschaft wie bei unserem jüngst fertiggestellten Mehrfamilienhaus in Basel liefern hier Ansätze. Will man ressourcenschonend und nachhaltig bauen, muss man einfacher bauen.
Kann Architektur die Welt verbessern?
Wie, mit welchen Materialien und wie langlebig wir bauen, liegt in der Verantwortung der Architekturschaffenden. Wir achten bei unseren Entwürfen auf Flexibilität und Wandelbarkeit, damit ein Werk über einen möglichst langen Lebenszyklus verfügt. Im optimalen Fall kann ein Gebäude in seiner rohen Struktur für eine Vielzahl von Nutzungen verwendet werden, mit wenig Materialeinsatz. Die Nutzer werden zu Akteuren und können sich die Architektur aneignen und so modifizieren, wie es für sie in der Momentaufnahme passt. Gute Architektur ist somit in ihrer Grundstruktur beständig und geht im Wandel der Zeit mit.
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