Grosser Junge

Zwei weitere Hochhäuser zieren künftig gemeinsam mit dem Tender das neu gestaltete Sulzer-Areal in Winterthur – darunter der 50 m hohe Bigboy des Zürcher Architekturbüros EM2N. Dabei bildet der Neubau mit seinem kleineren Bruder, dem Tender, ein gewollt, zusammengehörendes Konglomerat, und bietet jedoch im Gegensatz zu diesem mit insgesamt 125 Wohneinheiten mietbaren Wohnraum anstelle von Eigentumswohnungen in unterschiedlichster Grösse an. Gleich, aber dennoch anders behauptet sich das Wohnhochaus neben dem zentralen Dialogplatz und nimmt mit seiner Setzung Bezug auf den öffentlichen Freiraum des Areals.

Die unverwechselbare Atmosphäre des Sulzer-Areals in Winterthur ist von mehreren Faktoren geprägt: von den immer noch bestehenden Gebäuden in nächster Nähe, den verwendeten (Bau-)Materialien und der Architektursprache sowie den immer noch sichtbaren Spuren der industriellen Vergangenheit. So ist auch heute noch der Geist des Ortes, wo sich früher alles rund um die Dampflokomotiven drehte, präsent und bleibt unter anderem auch im 16-stöckigen Bigboy für die nächsten Generationen weiterhin erhalten. Und ebenjenes Gebäude repräsentiert die gleichnamigen Dampflokomotivkolosse in jeglicher Weise würdig: Gleichermassen wie die gewaltigen Zugmaschinen der Union Pacifik Railroad, welche in Amerika gebaut wurden, als Aushängeschild für das grosse Finale des Dampfzeitalters standen, setzt das Gebäude Bigboy nun eine präg-nante Landmarke in der Lokstadt und kann als Zugpferd für die urbanen Entwicklungen in Winterthur verstanden werden. Gemeinsam mit der Draisine und dem Tender komplementiert der „grosse Junge“ nun das Baufeld 1 der Zürcher Architekten EM2N, wendet sich in Richtung des für alle zugänglichen Dialogplatzes und eröffnet damit wortwörtlich in Anbetracht des Namens des Platzes das Gespräch zwischen dem öffentlichen Treiben und den privaten Bereichen im neuen Wohn- und Arbeitsviertel in Winterthur.

Gut betont
Von aussen greift auch die Fassade des Bigboys gleichermassen wie das äussere Erscheinungsbild des Tenders den industriellen Hintergrund des Baugrunds auf: Somit prägen ebenfalls dunkelrote Vollklinkersteine – farblich eine Anspielung auf die historischen Dachflächen des Areals – den Charakter des Hochhauses. Sie wurden mit grauen, roh belassenen Betonelementen kombiniert, wodurch der markante Industriecharme noch mehr betont wurde. Neben der auffallenden Optik sowie der Höhe des Baus wurden zugleich dessen Horizontalen betont, um das grosse Volumen in ein kleineres Raster zu teilen: So bilden die mit grauem Beton verkleideten Ränder der Geschossdecken durchgehende Waagrechten aus, die das dazwischen liegende, komplexe Geflecht aus vertikalen, unterschiedlich breiten Betonteilen und rostrotem Ziegelmauerwerk sowie rötlichbraun gefärbten Brüstungen und Stürzen einrahmen und in greifbarere Dimensionen unterteilen. Als formales Verbindungsglied dieser unterschiedlichen Gestaltungselemente der Fassade dienen die grossen Fenster, die filigranen Metallarbeiten und der textile Sonnenschutz des Bigboys, die sich erneut am Tender orientieren. Dabei wurde die zweigeschossige Sockelfassade zudem durch die Gliederung mittels Vordächern in den menschlichen Massstab überführt. Doch der Bezug zum räumlichen und auch menschlichen Kontext wurde nicht nur in der Fassadengestaltung, sondern bereits schon in der formalen Gestaltung der Gebäudevolumetrie aufgenommen:  Anders als das Hochhaus Rocket, dessen Wirkung vor allem auf die Ferne gerichtet ist, behauptet sich der Hochpunkt Bigboy vielmehr durch seine zentrale Position im Inneren des neuen Areals. Mittels seiner feinen Orientierung und Ausrichtung zum öffentlichen Arealzentrum hin, die sich durch die Gewerberäume im Erdgeschoss sowie die grossen Fensterflächen der Pfosten-Riegel-Fassade zeigt, eine räumliche Spannung zwischen dem negativen Luftraum und dem positiven Wohnraum schafft und den Dialogplatz einrahmt sowie begrenzt. Dadurch entsteht vom Blick des Fussgängers – vor allem von der Gasse herkommend – auf das Profil des Baukörpers eine massstäbliche und einladende Geste als Zeichen für die Mitte des rechteckigen Platzes.

In die Höhe gestapelt
Für mehr Leben rund um den Dialogplatz sollen zudem die fünf attraktiven, lässigen Laden- und Büroflächen zwischen 55 m² und 370 m² im Erdgeschoss sowie im ersten Obergeschoss sorgen, die als moderne Maisonetteeinheiten den unterschiedlichsten Nutzungen gerecht werden können und somit die öffentliche Zone aufwerten sollen. Hierfür wurden die Mietflächen praktisch aufgeteilt, können sich an jegliche Bedürfnisse, Wünsche und Ideen anpassen lassen und erlauben durch ihre attraktive Raumhöhe zusätzlichen Gestaltungsspielraum im finalen Innenausbau. Über dieser öffentlichen Zone befinden sich 125 Wohnungen mit unterschiedlichsten, gut durchdachten Grundrissen in dem insgesamt 16-stöckigen Gebäude: Pro Geschoss verteilen sich dabei jeweils acht bis zehn Einheiten, die vom Studio bis zur grosszügigen 4,5-Zimmer-Wohnung reichen und ebenfalls wie im Tender durch einen zentralen, gefangenen Korridor erschlossen sind. Aufgewertet wird dieser geschlossene Bereich im Gebäudeinneren ebenso wie im kleineren Bruder sowohl durch eine abgestimmte Materialwahl als auch durch eine betonte Gestaltung der einzelnen Wohnungszugänge, die in ihrer Kombination einen Hotelcharakter entstehen lassen. Charakterstark geht es auch in den jeweiligen Wohnungen weiter, wo sorgfältig erlesene Materialien sowie Vielfältigkeit die Mieter:innen begeistern. So erlauben drei unterschiedliche Ausstattungstypen den Bewohnenden eine gewisse Individualität: Dabei sind alle Einheiten mit Parkettboden ausgestattet, wobei man sich zwischen hellem Eichenparkettboden oder doch lieber dunklem Parkettboden zu Beginn entscheiden konnte. Erweitert wird die Materialpalette von den rohen Betonwänden und -decken, die das Holz angenehm ergänzen und gleichzeitig die Raumatmosphäre positiv beeinflussen. Die Qual der Wahl hatten die neuen Mieter:innen zudem hinsichtlich der Küche – während die Eckwohnungen mit dunklen Küchenmöbeln ausgestattet sind, verleiht helles Mobiliar den innen liegenden Einheiten zusätzliche Weite und vergrössert optisch die Einheiten. Mit dezenten Farbakzenten überraschen die sanitären Räume, wo bläuliche und grünliche Farbspiegel die einzelnen Badezimmer schmücken und diesen dadurch einen lebendigen sowie modernen Touch verleihen. 

Sicher in Farbe
Ebenso in Farbe – und wenn auch etwas unerwartet – präsentieren sich die beiden Treppenhäuser des 50 m hohen Wohnhochhauses. Ausgebildet als ein Helixtreppenhaus mit versetzt aneinander vorbeilaufenden Stiegenläufen, wurden diese zusätzlich mit zwei unterschiedlichen Farben versehen, wobei diese nette gestalterische Geste zugleich der Feuerwehr im Brandfall zur Orientierung dienen soll. Hinsichtlich der erweiterten Brand-
schutzmassnahmen wurde auch jeder Wohnungszugang mit einem eigenen Feuermelder ausgestattet, sodass die jeweiligen notwendigen Brandschleusen gewährleistet werden konnten und der geschlossene Korridor die Auflagen des Brandschutzes voll und ganz erfüllt. Klassisch zeigen sich hingegen die drei Liftanlagen im Gebäudeinneren, die die vertikale Erschliessung des Hochhauses vereinfachen und zudem barrierefrei gestalten. Einfach und gut sind auch die beidseitigen Zugänge der Gewerberäume im Parterre, die einer jeden Nutzung gerecht werden können: Entweder direkt über den öffentlichen Dialogplatz oder doch über die halb öffentlichen Zugänge auf der gegenüberliegenden Gebäudeseite kann das Raumprogramm der zweigeschossigen Einheiten privater oder auch offener gewählt werden.

Treffpunkt
Eine weitere, jedoch privatere Begegnungszone sowie einen Raum für sozialen Austausch eröffnet die gemeinschaftliche Dachterrasse, die den Bigboy zuoberst abschliesst – und eine weitere gestalterische Parallele zum Tender darstellt. Mit Gehwegplatten ausgelegt, mit einer Pergola samt Kletterpflanzen versehen sowie mit einer fixen Sitzgelegenheit ausgestattet, eröffnet sie in luftiger Höhe einen Ort zum Verweilen. Somit wird das soziale Leben am Dialogplatz erneut auf der Dachfläche des Bigboys aufgegriffen, im privateren Rahmen fortgeführt und gleichzeitig mit einer einmaligen Aussicht auf den Grossraum Winterthurs erweitert. Angesichts all dieser unterschiedlichsten Details und Gesten in der Gestaltung kann und muss das Adjektiv „big“ facettenreicher gedacht werden und nicht lediglich auf die Beschreibung der Dimension bezogen werden. Vielmehr als auf die Grösse bezieht sich das Motiv des Grossseins, hier auf die Idee einer grossstädtischen Zukunft,  einer grossen Vielfalt und einer einladenden Grosszügigkeit.

 

©Damian Poffet

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