Vom Schulhaus zum modernen Kino: Wo einst Wissen vermittelt wurde, wird seit 2017 in Locarno Filmkultur vom Feinsten auf einer angemessenen Bühne der Öffentlichkeit präsentiert. Im Spannungsfeld zwischen Alt- und Neubau hat der spanische Architekt Alejandro Zaera-Polo und Maider Llaguno zusammen mit DF_DC ein neues Zuhause für die Filmszene am Lago Maggiore realisiert, das dem jährlichen Filmfestival zusätzlich bauliche Präsenz verschafft.
Direkt am westlichen Eingang der Stadt Locarno, gegenüber der Piazza Remo Rossi und am Beginn der Via Rusca, befindet sich das Palacinema, das zum prägenden Element der westlichen Stadtsilhouette wurde. Neben seiner Bedeutung für das international bekannte Filmfestival soll es künftig als multikulturelle Plattform für die Filmkunst dienen. Hierzu werden bestehende Synergien genutzt – zwischen dem Filmfestival von Locarno und den verschiedenen Förderern des Films in der Schweiz.
Bühne frei
Untergebracht ist der Kinopalast in der bestehenden Gebäudestruktur des Palazzo Scolastico, einem ehemaligen Schulhaus. Die Wettbewerbsvorgaben sahen einen vollständigen oder teilweisen Abriss des Gebäudes vor, der sich aus der Art des Programms und der Tatsache ergab, dass das Gebäude nicht unter Denkmalschutz steht. Aus ökologischen, städtebaulichen und denkmalpflegerischen Gründen sah das Siegerprojekt vor, das bestehende Gebäude durch eine Reihe von lokalen Eingriffen zu erhalten, die der Logik der historischen Schichtung folgen. Es ist erwähnenswert, dass fast alle anderen Projekte des internationalen Wettbewerbs einen vollständigen Abriss oder radikale Eingriffe vorsahen. Die Idee von AZPML rund um den spanischen Architekten Alejandro Zaera-Polo war hingegen, das gesamte Raumprogramm für das Filmfestival innerhalb des vorhandenen Gebäudevolumens unterzubringen und die Piazza Remo Rossi davor als öffentlichen Raum für Veranstaltungen zu erhalten – beispielsweise für Filmvorführungen oder Preisverleihungen. Hierfür wurde wortwörtlich auch ein roter Teppich auf der Piazza ausgerollt: Der temporäre bauliche Eingriff auf dem Platz umfasste eine rote Pflasterung, die an den typischen Empfangsteppich der Filmfestivals erinnerte. „Ein interessantes Ereignis war, dass sich die neue weisse Fassade für eine kurze Zeit täglich für einige Stunden rosa färbte, weil das Licht auf dem rot gestrichenen Platz reflektiert wurde. Dieses zufällige Ereignis erinnerte spontan an die Jahre, in denen die ursprüngliche weisse Fassade Mitte der Zwanzigerjahre rosa gestrichen war“, fügte Dario Franchini, Architekt bei DF_DC, zur Übergangslösung als glückliche Fügung hinzu.
Mehr Bewegung
Zusätzliche Eleganz und weiteres Red-Carpet-Feeling verleiht dem Palazzo Scolastico dessen besondere Gebäudehülle: Denn eingekleidet ist der abstrakte Kubus in eine kinetische Fassade, die sich aus über 40’000 goldfarbenen, oxidierten Aluminiumelementen von einer Grösse von rund 100 × 110 mm zusammensetzt und spielerische Muster entstehen lässt – eine Assoziation an die Pixel der Filmkunst und die demnach das bewegte Bild hier durch und durch verkörpern. Nach der Logik der historischen Schichtung sollte jede Epoche ihren eigenen Ausdruck haben, der mit dem Vorhandenen in einen Dialog tritt und ein neues Ganzes ergibt. Die neue kinetische Fassade sollte die neue Funktion im bestehenden Palazzo verankern und die Insignie des Filmfestivals von Locarno (den Pardo d’Oro) als neues Element im Stadtbild aufnehmen. Darüber hinaus erinnern die durch Luftströme und unterschiedliche Lichteinfälle unwillkürlichen Muster auf der Fassade ans gefleckte Fell des Goldenen Leoparden – des Pardo D’Oro – der die Auszeichnung des Festivals für den besten Spielfilm ist. Möglich macht diese spielerische Gestaltung das unabhängige Schwingen jedes einzelnen Elements: Die fast 41’000 Aluminiumelemente drehen sich um einen zentralen Punkt, der über zwei seitliche Stifte mit mehr als 1000 entsprechend gespannten vertikalen Kabeln verbunden ist – vormontiert in der Werkstatt konnten dabei die Bearbeitungs- und Verlegezeiten vor Ort auf ein Minimum reduziert werden. Eines der Hauptprobleme bestand darin zu definieren, wie viel Bewegung die einzelnen Fahnen haben sollten, ausgehend von der gewünschten Wirkung des Gesamtsystems. Es ging darum, den Fahnen einen ausreichenden Windwiderstand zu geben und dennoch eine textile, kollektive Bewegung zu ermöglichen. Bei dieser Aufgabe wurde mit dem deutschen Ingenieurbüro FormTL zusammengearbeitet. Hinter der aufwendig gestalteten Fassade verbirgt sich ein weisser Putz, um die Gebäudewand als Projektionsfläche nutzen zu können, während die Laibungen der bestehenden Fenster ebenfalls neu im goldenen Glanz erstrahlen und sich so dem Neubau annähern.
Volles Programm
Die grösste Herausforderung bei der Beibehaltung des bestehenden Gebäudes war die Unterbringung der Dienstleistungen und Infrastrukturen, für die es zwei Möglichkeiten gab: entweder alles bis auf die Fassaden abzureissen, um so eine grössere Flexibilität zu erreichen, oder zu versuchen, einen lokal begrenzten und strategischen Abriss vorzunehmen und zwei Rückgratkerne zu bilden, die die Dienstleistungen enthalten würden. Man entschied sich für die zweite Option, die die Beibehaltung und Umwandlung eines grösseren Teils der Bausubstanz und damit eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen ermöglichte. Insgesamt nimmt das neue Ensemble drei Kinosäle auf – einen grossen Saal mit bis zu 550 Plätzen und zwei kleinere mit je 150 Sitzplätzen, die im ehemaligen Innenhof des bestehenden Gebäudes untergebracht sind. Über den beiden kleineren liegt der grosse gestapelt, sodass im Erdgeschoss ein grosszügiges Foyer mit Blick auf den Haupteingang von der Piazza Remo Rossi entstanden ist. Die neuen Bildungs- und Verwaltungseinrichtungen sind im Ost- und im Westflügel des ehemaligen Palazzo Scolastico untergebracht und mit neuen Mehrzweckräumen und einer Terrasse mit Blick auf das Castello verbunden – diese Einrichtungen sind unabhängig von den Kinos nutzbar. Zudem sind sie von der Via Rusca aus zugänglich und wurden so konzipiert, dass sie eine grösstmögliche Flexibilität bei der Programmgestaltung bieten. Dank der Kompaktheit des Gebäudes bleiben die notwendigen Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Teilen des Raumprogramms dennoch erhalten.
Wechselbeziehung
Gut miteinander verbunden sind auch Locarno und das Filmfestival – ein inzwischen unzertrennliches Paar. Das Festival ist mittlerweile ein Anlass von internationaler Bedeutung, zugleich aber auch Teil des kulturellen Erbes des Kantons und der Schweiz sowie ein Identitätsstifter für die ganze Region Locarno. In diesen Kontext passt das Palacinema, das in erster Linie darauf abzielt, auf die Anfragen des Festivals zu reagieren, insbesondere in Bezug auf Logistik und Organisation der Veranstaltung, und bei der Suche nach neuen hochwertigen Räumen, insbesondere für Vorführungen, zu unterstützen. Gleichzeitig bietet der prägnante Bau die Möglichkeit, eine privilegierte Plattform für Begegnungen und die Entwicklung von Kooperationen zwischen Akteuren des Filmsektors und der audiovisuellen Produktion zu schaffen.
©Giorgio Marafioti
Zum Programm gehts hier.