Wer liebt sie nicht – Geschichten. Auf über 350 Jahre Historie kann ein Engadinerhaus im Bergdorf Latsch zurückblicken und nun künftig etliche Erlebnisse anknüpfen: Denn mit viel Engagement und Liebe zum Detail hat Felix Partner Architektur und Design das desolate Bauernhaus im Albulatal saniert und als einmaligen Rückzugsort wieder aufleben lassen. Das Alte aufzugreifen, einzubinden und dieses mit teils moderner Neuinterpretierung weiterzuspinnen, stand dabei von der ersten Projektidee an im Vordergrund.
Von Chur aus bahnt sich die Albulalinie tief ins gleichnamige Tal hinein. Ihr Weg führt durch die beindruckende Bergregion Graubündens, vorbei an verschlafenen Dörfern, und versetzt den Reisenden sogleich in vergangene Zeiten zurück. Vom Bahnhof Bergün aus geht die Reise weiter den Berg hinauf: In vielen Kehren windet sich eine, schmale, beinahe einspurige Strasse durch den Berghang und erschliesst das abseits gelegene Bergdorf Latsch – das ganzjährig mit gerade mal 50 Einwohnern besiedelt ist. Inmitten der wildromantischen Natur fügt sich hier, umgeben von glasklaren Bächen und steilen Berghängen, ein malerisches Ensemble Engardinerhäuser ein – die stereotypische Filmkulisse der unzähligen Heidi-Verfilmungen. In mehrgeschossiger Ausführung, weiss verputzt und reich verziert mit Fassadenmalereien und Sgraffiti präsentieren sich die vermeintlichen Steinhäuser des Orts in der charakteristischen Architektursprache der Gegend. Doch hinter der aufgemauerten, harten Schale verbirgt sich im Inneren ein geschickt verschachteltes Konstrukt aus Holzkammern, die in steter Erweiterung die Geschichte der Bauten ablesbar machen. Einem dieser Strickbauten wurde nun neues Leben eingehaucht: Äusserst liebevoll und überaus detailverliebt wurde ein ehemaliges Bauernhaus restauriert und durch behutsamen Umbau gleichzeitig um eine Epoche weitergesponnen – wobei weder Mühen noch Einsatz gescheut wurden.
Neues Erwachen
Gut Ding braucht Weil – nach einer erstmaligen digitalen Bestandsaufnahme und insgesamt drei Jahren umfangreicher Planungs- und Bauarbeiten erscheint das über 350 Jahre alte Haus in neuem oder – auf den ersten Blick – doch altem Glanz. Denn im Zuge der weitreichenden baulichen Massnahmen und Modernisierung wurden dennoch das äussere Erscheinungsbild als auch der Grossteil der Innenausstattung des denkmalgeschützten Doppelhauses bewusst in ihrem Originalzustand belassen. Demnach finden sich unzählige originale Gebrauchsgegenstände und historische Artefakte auf den insgesamt 350 qm2 Wohnfläche und lassen die Zeitreise durch die weit zurückgreifende Geschichte des Gebäudes erlebbar werden. Den überaus stimmigen und einzigartigen Brückenschlag zwischen den gegensätzlichen Epochen schafften die Architekten von Felix Partner Architektur und Design mit viel Feingefühl und einem guten Gespür für die gesamte Innenausstattung und Farbgestaltung. Hierfür wurden die beibehaltenen Gebäudeelemente aufwendig restauriert und danach mit voller Absicht in Kontrast zu den neu eingefügten Bauteilen gestellt: Die traditionellen Holzkonstruktionen und Steinmauern treffen nun auf schwarzen Stahl, Lärchenholz, Glaswände und Sichtbeton. Letztendlich bedeutete die Sanierung des Engadinerhauses jedoch weitaus mehr als sichtbaren Bestand aufzupolieren und mit zeitgemässer Ausstattung zu erweitern: Denn erstmals mussten sämtliche Leitungen für die Gebäudetechnik sowie Wasser und Kanalisation in das Gebäude integriert werden, um den heutigen Wohnstandards gerecht werden zu können. Obendrein wird nun das historische Wohnhaus beinahe autark mit nachhaltiger Energie unterhalten – eine Photovoltaikanlage sowie Erdsonden lassen das alte Bauernhaus zum Nullenergiebilanzhaus werden.
Volle Achtung
Vielmehr als auf den historischen Bestand muss der Besucher zuvor auf sich selbst Acht geben: Doch bevor sich die Sanierung in voller Pracht offenbart, gilt es, zuvor den Kopf einzuziehen und über die Schwelle des niedrigen, klassischen zweiteiligen Eingangstors in den neu eingezogenen Windfang einzutreten. Aus thermischen Gründen trennen nun zwei ums Eck laufende Glasscheiben den Sulèr (der Eingangsbereich) und den hölzernen Originaleingang und schaffen die notwendige Kältebarriere zwischen dem Innen- und Aussenraum, wodurch das hölzerne Portal erhalten bleiben konnte. Auch auf weitere Dämmung der massiven Aussenwände des gesamten Baus wurde verzichtet, sodass sich diese fassadenseitig als auch innenliegend völlig unverhüllt zeigen. Selbst der ehemalige Fussboden im Sulèr wurde belassen, auf dem die Zeit wahrlich ihre Spuren hinterlassen hat: Mit all seinen Unebenheiten, Kerben und Kratzern erzählen die Holzdielen vom emsigen Treiben und dem arbeitsreichen Alltag vergangener Tage und erlauben durch die unregelmässigen Bretterspalten neugierige Einblicke in das Untergeschoss. Zwar weniger unseren gewohnten Standards entsprechend, aber dafür umso authentischer überzeugt der Umbau bereits mit den ersten Eindrücken – Ausnahmen bestätigen hier durchwegs die Regeln.
Ankommen
Übersichtlich und klar strukturiert ist der Grundriss im Erdgeschoss gegliedert und spiegelt sich in den weiteren Geschossen wider. Zur linken Seite des Sulèr trennt eine neu errichtete Brandwand die beiden Wohneinheiten des Doppelhauses, die gleichzeitig eine Wandheizung aufnimmt. Auf der gegenüberliegenden Seite wird der grosszügige Eingangsbereich von einer kleinen Holzstube – der Stüva – sowie zwei weiteren, angrenzenden Gewölberäumen flankiert. Besonders in dem hölzernen Wohnraum wird die hohe Detailaffinität des gesamten Entwurf ersichtlich: Die einladende Kammer samt Kachelofen konnte in enger Zusammenarbeit mit dem Restaurationsschreiner Aaron Bellini aus Parsonz wieder vervollständigt werden, wofür in massgenauer Handarbeit sämtliche fehlende Möbelteile individuell nachgebaut wurden. Im Gegensatz dazu präsentiert sich die Ausstattung der beiden gemauerten Räumlichkeiten sehr modern: Während in der ehemaligen Küche – der Chadafö – der alte holzbefeuerte Herd noch vom früheren Lebensstandard zeugt, wurde in der angrenzenden Speisekammer – der Chaminada – eine puristische Kücheninsel aus Sichtbeton realisiert. Hier durchbrechen kleine, unregelmässige Fensteröffnungen die massiven Aussenmauern, die Tageslicht ins Innere und gleichzeitig die direkte Nähe zum angrenzenden Nachbarhaus zum Vorschein bringen.
Im Blick
Weite Blicke in die Ferne garantiert hingegen die zweigeschossige Wohn- und Esshalle im ehemaligen Heustall. Von hier aus eröffnet sich ein ungetrübter Ausblick auf den gegenüberliegenden Berghang und dessen Wälder – eine Aussicht, die zum Träumen und Entspannen verführt. Ausgebildet wird dieser Wohnraum von einer neu eingefügten Kammer im vorderen Gebäudeteil, wodurch die Architekten das Verständnis des Strickbaus nachempfunden haben und so ein weiteres Kapitel an die Geschichte des Baus anfügten. Dank der gedeckten Farbgebung des Innenausbaus wird der grosse Raum von einer Wohlfühlatmosphäre erfüllt, die von den erhaltenen Altholzelementen und deren angenehmem Duft unterstrichen wird. Selbst an der Aussenfassade wurden hier die ursprünglichen Holzlamellen beibehalten, die sich formal in den neuen Schiebeelementen wiederfinden, nun dem Sichtschutz dienen und zudem einmalige Ein- und Ausblicke sowie Lichtspiele entstehen lassen.
Abtauchen
Doch die wahre Wohlfühloase verbirgt sich auf den ersten Blick äusserst gut in dem historischen Engadinerhaus: Geschickt versteckt befindet sich der Abgang in die Relax-Zone unter einem Schiebeboden im Eingangsbereich des Sulèr. Im Rahmen dieser Umnutzung wurde das Untergeschoss einem völligen Make-Over unterzogen und ein kompakter Wellnessbereich geschickt in die bestehende Raumstruktur des ehemaligen Geissenstalls eingefügt. Der Court, der grösste Bereich direkt unter dem Eingangsbereich des Parterres gelegen, wurde zur Umkleide umfunktioniert. Zum Garten hin öffnet sich im vorderen Teil des Gebäudes der einzigartige Spa-Bereich des Feriendomizils. Aus einem Guss wurden hier das Poolbecken sowie die Sauna und das Dampfbad in Sichtbeton realisiert – eine experimentierfreudige Sonderfertigung für ein einmaliges Raumerlebnis. Somit erscheint der gesamte Innenraum völlig einheitlich in seiner Materialität sowie Oberflächenstruktur: Doch für die Ausführung dieser „Ganzraum“-Schalung bedingte es nicht nur einer speziell angefertigten Holzschalung, sondern vor allem der durchdachten Koordinierung der einzelnen Arbeitsschritte. Denn bereits im Vorhinein mussten sämtliche Anschlüsse sowie diverse Bodenschienen mitgedacht und positioniert werden sowie im selben Arbeitsschritt der spielerische Umgang mit den Bodenniveaus umgesetzt werden – eine Anspielung der Planer an die verschachtelte Raumordnung des Strickbaus. In der konisch gerippten Deckenausführung greifen die Planer den nicht orthogonalen Gebäudegrundriss auf, betonen die Streckung des Baukörpers und führen den Blick in Richtung des Gartens. Von dort aus gelangt man über eine weitere Betontreppe auf die vorgelagerte Terrasse des Wohnbereichs im Erdgeschoss.
Darüber hinaus
Zurück im Parterre führt eine alles andere als standardgemässe, ursprüngliche Holztreppe – neben dem Windfang – in das erste Stockwerk, das Palatschin, und präsentiert für sich bereits ein einmaliges Erlebnis im etwas kleineren Mass-
stab. Aufgrund der unebenen, schiefen und teils abgewetzten Auftritten sowie unterschiedlichen Stufenhöhen bedingt es hier einer gewissen Trittsicherheit, um in die privateren Räumlichkeiten des Hauses zu gelangen. Wie in den beiden drunterliegenden Etagen, wiederholt sich auch hier die gleiche Raumstrukturierung – eine vertikale Stapelung der Wohnräume, die aus praktischen Gründen charakteristisch für den Aufbau der alten Engadinerhäuser ist. Die kleine Holzstube am Treppenende konnte unter grossen Bemühungen wieder halbwegs ins Lot gezogen werden und nimmt nun das Kinderzimmer auf. Die angrenzende, ehemalige Rauchkammer wurde original belassen, zum separierten Leseeck umfunktioniert und der zweite Gewölberaum zum Badezimmer ausgebaut. Um hier die spezielle Raumwirkung beizubehalten, wurde für den steinernen Raum eigens eine Sanitärinsel entworfen – erneut in konischer Form. Der rote Faden in der Materialität zieht sich auch hier im Mobiliar fort: Glaswände, Sichtbeton und schwarze Stahlelemente schaffen ein stimmiges Ensemble, ohne den gediegenen Raum zu erdrücken oder komplett für sich zu behaupten. Konträr zu der modernen Ausstattung präsentiert sich hingegen die Repräsentationskammer – die Stüva sura – mit direktem Blick auf die Dorfkirche, die nach einer intensiven Restaurierung wieder in ihrer ursprünglichen Erscheinung erstrahlt.
Weiter träumen
Weiter in das zweite Geschoss führt das eingezogene Treppenhaus, das sich durch die oberen Stockwerke windet. Dabei steht die neue Erschliessung in Optik und Materialität deutlich im Kontrast zum restlichen Interieur: Komplett aus Sichtbeton gegossen, passt sich dieses genauestens in die willkürliche Struktur des Bestands ein und orientiert sich, übersät mit der feinen Maserung der Holzschalung, jedoch gleichzeitig an der Haptik der natürlichen Baumaterialien. Zudem gewinnt in dieser Etage bereits das steile Giebeldach an Präsenz, wodurch sich die Raumaufteilung von den drunterliegenden Stockwerken unterscheidet: Ein offener Raum nimmt hier die komplette Struktur ein, dessen raumtrennende Elemente aus Lärchenholz das Elternschlafzimmer abgrenzen. Überaus raffiniert und mit viel handwerklichem Können wurde in die massgefertigten Schreinermöbel eine Schiebetür in die Rückenwand des Kleiderschranks integriert, sodass ganz ohne Führungsschienen und somit Bodenschwellen ein Raumabschluss möglich ist. Dahinter bildet sich ein privater Rückzugsort aus, in welchem die Grenzen zwischen dem Schlafbereich und dem Badezimmer ineinanderfliessen. Verstärkt wird die offene Raumwirkung von modernen Glaselementen wie der Duschkabine, wodurch der Raum an Licht gewinnt und dabei nicht an Grösse einbüssen muss. Gleichzeitig wird die Präsenz der ursprünglichen Steinmauer hinter der transparenten Verkleidung betont und zum hautnahen Erlebnis sowie optischen Highlight hervorgehoben – eine besondere Wechselwirkung zwischen Alt und Neu. Doch viel mehr als dieses besondere Zusammenwirken wird hier das Spiel mit dem Aussen- und dem Innenraum aufgenommen: Die grossen Fensterfronten rahmen die atemberaubende Natur, ermöglichen Ausblicke zum Weiterträumen und holen die malerische Umgebung beinahe in die eigenen vier Wände.
Fokus
Auch in der letzten Etage – vielmehr einer kleineren Galerie – stehen Perspektiven und das Arbeiten wortwörtlich im Zentrum: Denn weitaus mehr als nur fokussiertes Schaffen, erlaubt der im Brennpunkt verschiedener Blickachsen platzierte Schreibtisch einmalige Ausblicke und Inspirationsquellen. Nach vorne gerichtet, eröffnet sich durch das Dachfenster das Gipfelpanorama des Piz Ela, während zu beiden Seiten entweder Waldflächen oder Berghänge von den Fenstern umrahmt werden. In voller Vielfalt präsentieren sich hier sowie im gesamten Haus die unzähligen Details und beeindruckenden Aussichten – die natürlich auch der Umgang mit dem baulichen Bestand von vornherein ermöglichte. Doch weder ein Abriss noch ein völliges Bewahren des Engadinerhauses wurde angestrebt: Mit dem Blick in die Zukunft gerichtet, fokussierten Felix Partner Architektur und Design auf eine respektvolle Einbindung der historischen Bausubstanz, um an deren Geschichte noch viele weitere Jahre anzuknüpfen – denn Zukunft braucht Herkunft und um neue Geschichten zu schreiben, müssen wir die alten erst verstehen.