Aus losem Stein gebaut

Im englischen Märchen The Three Little Pigs bauen drei Schweinchen je ein Haus aus einem andern Material: Das erste baut eines aus Stroh, das zweite baut mit Holz, und das dritte errichtet ein Haus aus Stein. Die beiden ersten Häuser pustet der Wolf, der den Schweinchen nach dem Leben trachtet, einfach weg. Erst das Haus aus Stein widersteht seinen Angriffen, und die drei Schweinchen sind in Sicherheit.

Gemauerte Häuser stehen für Stabilität und Dauerhaftigkeit – doch was würde der Wolf sagen, wenn das Haus aus Stein nicht mit Mörtel gemauert wäre, sondern nur aus losem Schotter und einer Schnur bestünde? Auch so ein Haus kann durchaus stabil und beständig sein, wie das jüngste Objekt des Lehrstuhls Gramazio Kohler beweist. Auf dem Kirchplatz in Winterthur hat letzten November ein mobiler Roboter einen Pavillon erstellt: aus 38 t losem Schotter und 85 km konventioneller Packschnur. Ein Dach ausStahl krönte und beschwerte das Bauwerk, das aus einer Gruppe von fingerförmigen Stelen bestand und über 32 Tage Wind und Wetter zu widerstehen vermochte – ebenso wie dem Nachtleben in der Stadt und neugierigen Schulkindern. Natürlich unter strenger Kontrolle eines Lasers, der zu jedem Zeitpunkt mit seinen Messungen prüfte, ob der Pavillon sich bewegt.

Über fünf Wochen errichtete der In situ Fabricator genannte Roboter die an Stalagmiten erinnernden Stützen. Schicht um Schicht lud er eine Handvoll Schotter ab und verdichtete danach den Haufen mit einem pneumatischen Stampfwerkzeug. Wenn der Schotter auf einer Lage fertig verteilt war, legte der Roboter mit einem kunstvollen Schwung die Schnur in Schlaufen auf das lose Gestein. Darauf kam wieder eine Lage verdichteter Schotter zu liegen. Schicht um Schicht wuchs so eine Strukturheran, die in der Kombination der beiden einfachen und unspektakulären Materialien Erstaunliches leistete: Die Schottersteine liessen sich nach Abschluss der Arbeiten selbst mit Fleiss kaum aus der Konstruktion herauslösen. Lediglich an einer Stelle wies der Pavillon einen Schaden aus, die provisorisch mit Drahtgeflecht ausgebessert wurde. Aus einer Öffnung im Dach tropfte Regenwasser auf die Konstruktion, das sich auf dem Dach gesammelt hatte: Die Feuchtigkeit veränderte die Materialeigenschaften, und das stete Tropfen wusch ein Loch in den Fuss einer der Stelen.

Die Professur von Fabio Gramazio und Matthias Kohler an der ETH Zürichforscht zur digitalen Fabrikation von Architektur, zu Konstruktions- und Bauprozessen sowie Materialien. Im Zentrum dieser Forschung stehen additive Fügetechniken, welche Roboter beherrschen und welche unter Anwendung von Algorithmen mitunter in der Erstellung ganzer Bauwerke münden. All diese Aspekte vereint das Projekt Jammed Architectural Structures. In Winterthur ist nach diesem Prinzip ein temporärer Pavillon entstanden, der faszinierende Einsichten zu den Themen Rückbau und Wiederverwertung gibt.
Verkeilt und Verzahnt

Das physikalische Prinzip hinter dieser Konstruktionsmethode ist das sogenannte Jamming, das sich auf die verschiedensten Materialien anwenden lässt. Durch Selbstverzahnung geht das Granulat von einer losen Form – man kann jeden einzelnen Schotterstein in die Hand nehmen und aufheben – in den Zustand einer gefügten Konstruktion, die sich nicht mehr so einfach auseinandernehmen lässt und die erstaunlich tragfähig ist. Am einfachsten lässt sich dieses Phänomen in der Analogie zum sprachlich verwandten „traffic jam“ nachvollziehen oder dem Verstopfen eines Trichters mit granularem Material, wie es zum Beispiel bei Kaffeebohnen in einer Mühle vorkommt, die nicht mehr nachrutschen. Plötzlich geht nichts mehr und die an sich beweglichen Elemente sind verkeilt und verzahnt.

Genau an dieser Schnittstelle forscht das Team von Gramazio Kohler Research in diesem Projekt. Auf der Website beschreibt es als Ziel, „dieses als ‚Jamming‘ bekannte Phänomen aus der Physik … auf einen architektonischen Massstab übertragen und für den digitalen Entwurf und den roboterbasierten Aufbau von geometrisch-differenzierten architektonischen Elementen“ nützen zu wollen. Es ist eine spannende Mischung aus Materialphysik – das Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem Institut für Baustoffe der ETHZ bearbeitet –, Fügungstechnik und Robotik oder wie der Lehrstuhl weiter ausführt: „Im Zentrum des Forschungsprojekts steht die roboterbasierte Assemblierung von einfachem, losem und granularem Grundmaterial. Dabei spielen die Selbstverzahnungseigenschaften des Materials eine übergeordneteRolle, indem dieses durch einen gezielten Aufbau und durch die Einleitung externer Kräfte (u.a. Druckbelastung) in dauerhafte bzw. selbsttragende Konfiguration übergehen kann.

Rückbau ohne Verluste
Die ersten Versuche zu dieser Fragestellung begannen mit Cornflakes. Und es war ein weiter Weg von diesen ersten Experimenten mit Frühstücksflocken und anderen Materialien bis zum heutigen schalungsfreien und lastabtragenden Konstruktionssystem. Es bedurfte der mehrjährigen Forschung der beiden Doktoranden Petrus Aejmelaeus-Lindström und Gergana Rusenova, um die Erkenntnisse zur Anwendung zu bringen. Nach einer ersten Installation auf der Chicago Architecture Biennale (2015) konnte die Tragfähigkeit der Konstruktion durch Versuche im Labor und für eine Installation auf dem Ars Electronica Festival in Linz (2017) nachgewiesen und das Verhalten des ungewöhnlichen Bausystems mittels empirischer Forschung besser verstanden werden. Dank dieser Versuche und der Zusammenarbeit mit den Ingenieuren von Lüchinger + Meyer konnte schliesslich der Pavillon in Winterthur modelliert, errichtet und für die Öffentlichkeit freigegeben werden.

Das Erstaunlichste an diesem Pavillon – wie auch an seinen Vorgängermodellen – ist der Rückbau. In Winterthur erfolgte er innerhalb eines halben Tages: Zuerst wurde das Stahldach abgehoben, das durch sein Gewicht von 8 t die Struktur stabilisierte. Dann wickelte ein selbst entworfenes Gerät die Schnur wieder auf und löste damit die stabile Form der Stelen aus Schotter. Diese lösten sich Schicht um Schicht, und am Ende verwandelte sich jede Stele wieder zum Haufen aus Schotter, aus dem sie einst geformt wurde. Nach der Demontage war der Pavillon wieder in seine ursprünglichen Einzelteile zerlegt: Der Schotter wurde auf einen Lastwagen verladen und zur weiteren Verwendung weggefahren, die Schnur aufgewickelt, der Kiesplatz wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt. Nichts erinnerte mehr an den Pavillon, der sich dort befunden hatte, das Material stand vollständig und ohne einen Verlust von Wert und Qualität sofort wieder zur Verfügung.

Doch nicht nur im Rückbau weist diese Bauweise Vorteile auf, auch bei der Erstellung lässt sich viel Energie und Material sparen.Denn „damit entfallen übliche Aufbau-, Verbindungs- und Montagehilfen, und gleichzeitig können die resultierenden Bauteile auf einfache Weise rückgebaut werden“, wie der Lehrstuhl die Vorteile beschreibt. Die Forschung zu diesem Konstruktionsprinzip beschäftigt sich noch mit den Grundlagen, und eine konkrete Anwendung ist noch nicht in Sicht. Man könnte sich eine Anwendung im Tiefbau oder in Landschaftsprojekten vorstellen. Doch der Lehrstuhl von Gramazio Kohler hat schon öfter mit der raschen Umsetzung seiner Forschung in konkrete Projekte überrascht: das Weingut Gantenbein, die Ofenhalle in Pfungen und das Dach des Arch_Tec_Lab – oder aktuell das DFAB House im Nest der Empa, das im Februar eröffnet wird. All diese Beispiele wären ohne die Erforschung der Grundlagen nicht vorstellbar. Man kann mit Spannung auf die erste Anwendung einer Jammed Architectural Structure ausserhalb des Hochschulkontexts warten – für die zirkuläre Verwendung von mineralischen Baustoffen wäre dies ein entscheidender und bedeutender Sprung nach vorne.

Text: Marko Sauer

gramaziokohler.arch.ethz.ch

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