Vierzehn Bewohner zählt das verschlafene Bergdorf Scudellate im südlichsten Tessin – eine weniger aussichtsreiche Tatsache. Mit einem etwas anderen Hotelkonzept will die Stiftung Fondazione per la Salvaguardia dell’Alta Valle di Muggio“ die fast vergessene Perle des Muggiotals nun aus dem Dornröschenschlaf holen und ihr wieder frischen Wind einhauchen. Das Modell des Albergo Diffuso soll dabei nicht nur die Wirtschaft in dieser Region erneut ankurbeln, sondern zugleich Übernachtungsgästen die lokale Kultur hautnah erfahrbar machen sowie diesen eine Auszeit vom Alltagsstress in der Idylle des Monte Generoso ermöglichen – wortwörtlich ein Grenzgänger-Projekt zwischen Heimatgefühlen und wirtschaftlichem Umdenken der Initiatoren sowie den Landesgrenzen.
Raus aus der Hektik des Alltags und sich eine Pause vom städtischen Trubel inmitten der idyllischen Natur des Muggiotals gönnen – das Dorf Scudellate am Fusse des Monte Generoso hat sich hier als neuer Geheimtipp etabliert. Dabei ist die Ruhe ein Fluch und ein Segen zugleich: Denn während viele genau jene Abgeschiedenheit schätzen und bewusst suchen, sehen die Einwohner aufgrund dieser eher weniger Zukunftsperspektiven und verlassen ihre Heimat – vor allem die jüngeren Generationen. Und genau hier, im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Not und drohendem Verlust kulturellen Erbes in Gegenüberstellung faszinierender Natur, haben die Freunde Claudio Zanini und Oscar Piffaretti sowie dessen Frau Simona Recalcati ihr neues Lebensprojekt verwirklicht. Seit Juni 2021 betreiben sie im Schatten des Monte Generoso eine ganz besondere Herberge, die sich die Besonderheiten der Region zunutze macht und mit dem Bestreben eines sanften Tourismus einen neuen Wirtschaftszweig etablieren möchte. Mit dem speziellen Konzept eines Albergo Diffuso werden die Gastgeber nicht nur den Ansprüchen der Touristen gerecht, sondern binden zudem die Einheimischen in das Projekt mit ein und wandeln das verträumte Bergdorf zum Gemeinschaftsprojekt einer ganzen Region.
Tapetenwechsel
Was bringt uns die Zukunft? Diese Frage stellten sich nicht nur die Handvoll übrig gebliebener Bewohner des ehemaligen Schmugglerdorfes Scudellate unmittelbar an der italienischen Grenze. Auch die beiden ehemaligen Arbeitskollegen Oscar Piffaretti und Claudio Zanini beschäftigte diese grundlegende Frage, die sie veranlasste, ihre Karriere im Finanzbereich zu beenden. Auf der Suche nach etwas Sinnstiftendem gemeinsam mit mehr Lebensqualität stellte eine berufliche Veränderung den Ausweg dar, der sie letztlich zu den Geschäftsführern der Stiftung Fondazione per la Salvaguardia dell’Alta Valle di Muggio machte. Ein Weg, der sich durch mehrere Umstände und Gegebenheiten ebnete: Einer der ausschlaggebenden Punkte war mit Sicherheit die Osteria Manciana, die seit 90 Jahren zum Familienbesitz von Oscar Piffaretti gehörte, bereits in zweiter Generation als Dorfrestaurant den sozialen Mittelpunkt Scudellates präsentierte und pensionsbedingt nun endgültig vor der Schliessung stand. Inspiriert von der Tätigkeit und Erfahrung seiner Frau Simona in der Gastronomie, die in Chiasso dreissig Jahre ein Lokal führte, sowie mit dem persönlichen Bezug behaftet und vom intrinsischen Wunsch nach Veränderung angetrieben, nahm die Idee des verstreuten Hotels Gestalt an. Ein touristisches Angebot, das sich ebenjenes Leid der Einwohner zunutze macht und mit der Idylle und Ruhe der Region den ersehnten Ansprüchen der Gäste gerecht wird. Der Fluch soll somit zum Segen der Region werden, die durch das Projekt neue Arbeitsplätze sowie neue Perspektiven und einen Aufschwung erhalten und dadurch vor allem wieder junge Familien zurückholen soll – sowie die Qualitäten des Grenzgebiets vermitteln soll.
Schritt für Schritt
Überzeugt von dieser Idee, gründeten Piffaretti und Zanini ebenjene Stiftung Fondazione per la Salvaguardia dell’Alta Valle di Muggio, deren Ziel die Umsetzung des Albergo Diffuso war. Den Startschuss für das umfangreiche Vorhaben setzten sie mit der Renovation der Osteria Manciana im Dorfzentrum: Neben der Sanierung des alten Gebäudes wurden die darüberliegenden Räume in zwei geräumige Gästezimmer umfunktioniert und die Réception des ungewöhnlichen Hotels dort untergebracht. Zusätzlich zum neu gestalteten 35-plätzigen Restaurant mit zwei Terrassen und kleiner Bar wurde im Erdgeschoss der Osteria – wie in alten Zeiten – eine kleine Bottega zum Verkauf lokaler Spezialitäten eingefügt. In einem zweiten Schritt wurde das benachbarte ehemalige Schulhaus im Dorf in ein Ostello, eine Art edle Jugendherberge, umfunktioniert. Dort, wo einst Wissen vermittelt wurde, sind nun 22 Schlafplätze in vier hellen, modernen Zimmern untergebracht und zudem ein grosszügiger Aufenthaltsraum, eine grosse Terrasse, zwei Waschmaschinen sowie eine E-Bike-Ladestation zu finden.
Grösser denken
Einen Kontrast zu den Mehrbettzimmern bietet hingegen ein komplett umgebautes Nebengebäude, in dem sich ein mit viel Liebe zum Detail konzipiertes Boutiquehotel befindet. Unter der Leitung von Claudio Zanini und seiner Frau wurden hierfür zwei ehemalige Nachbarhäuser zu dem liebevoll gestalteten Hotel mit drei Doppelzimmern sowie drei weiteren Suiten auf insgesamt drei Etagen gewandelt, das zudem mit einem Kräutergarten und einem privaten Hot Tub im Garten begeistert. Im Inneren des Gebäudes kommen die Gäste in den Genuss ausgewählter Materialien, bewusst selektierter Möbel und hochwertiger Handwerkskunst: Die sichtbaren Steinwände und der roh belassene Steinboden werden umspielt von edlen Türen aus Kastanienholz und lassen die gemütliche, heimelige Atmosphäre entstehen. Die themenspezifischen Zimmer, die wichtige Orte der Familie Zanini aufgreifen, unterscheiden sich dabei lediglich in Details wie der Farbgebung und den selektierten Möbelstücken, die die jeweilige Ortsreferenz aufgreifen und mit z.B. Lampen aus Istanbul ebenjenen Ort authentisch widerspiegeln. Ein weiteres Highlight der jüngsten Unterkunft ist dessen Sonnenterrasse, von wo aus sich ein weitreichender Blick ins Muggiotal eröffnet und die von den umliegenden Weinreben Scudellates umspielt wird.
Genuss pur
Doch auch die anderen Sinne kommen beim Aufenthalt in dieser verstreuten Hotelanlage nicht zu kurz: So können alle Beherbergungsangebote mit Frühstück oder Halbpension gebucht werden, sodass alle Gäste auch auf ihre kulinarischen Kosten kommen. Mit Tessiner Spezialitäten nach alten Familienrezepten wie Polenta mit Ossobuco, feinen Gnocchi, einer lokalen Käsevariation oder Minestrone wird die Osteria besonders am Wochenende zum beliebten Treffpunkt. Durstige Wanderer füllen ihre Speicher, Einheimische treffen sich zum Plausch, und die Gäste des Albergo Diffuso erfreuen sich an der kulinarischen Entdeckungsreise der Region. Ein gesellschaftliches Treiben, das ohne die finanzielle Unterstützung der Schweizer Berghilfe und des Kantons nicht realisierbar gewesen wären. Die Berghilfe leistet finanzielle Hilfe und trifft entsprechende Abklärungen – auch in Zusammenarbeit mit der kantonalen Denkmalpflege –, um historisch wertvolle Dörfer und Gebäude in den Bergregionen erhalten zu können. Ihr Ziel ist es zudem die Existenzgrundlage letztlich für die lokale Bevölkerung zu erhalten oder sogar neu zu schaffen. Neben der Förderung von Tourismus und Wirtschaft gilt es vor allem, regionales Kulturerbe sowie die Landschaft zu pflegen und diese kulturellen Werte attraktiver zu machen und finanziell aufzubessern.
Vorausschauend
Doch mit diesem aktuellen freudvollen Bild, ist die Umwandlung des Bergdorfes noch nicht abgeschlossen: Eine weitere Übernachtungsmöglichkeit folgt 2024, wenn die Berghütte auf der Alpe Caviano fertig umgebaut sein wird. Innerhalb von zwei Stunden Fussmarsch ist die Alp ab Scudellate erreichbar und wird von einem Hüttenwart betrieben. Ein Highlight der Hütte wird der grosse Saal sein, der sich zudem auch ideal als Yoga-Studio umnutzen lässt. Darüber hinaus soll das bereits jetzt umfangreiche Angebot von Bike-’n’-Wine-Touren über Kochkurse bis hin zu Besuchen bei einheimischen Käsern, mit Töpferkursen, Konzerten und Meditation erweitert werden. Doch trotz all der Massnahmen zur Förderung des Tourismus in der Region wird das damit verbundene steigende Verkehrsaufkommen nicht vergessen. Hierfür transportieren unter anderem die Mitarbeiter des Albergo Diffuso die benötigten Produkte jeweils auf ihrem Arbeitsweg zur Osteria hoch. Weiter ist angedacht, möglichst viele Gäste per Elektro-Shuttle ins Dorf zu chauffieren, da Parkplätze im kleinen Bergdorf Mangelware sind. All diese Bemühung laufen unter dem Projekt „Stay Generous“ der Albergo Diffuso del Monte Generoso SA (ADMG), deren Ziel die Vernetzung und optimale Verwaltung der angeschlossenen Aktivitäten ist. Von der Hotelbranche, diversen weiteren Unterkünften, unterschiedlichen öffentlichen Einrichtungen wie der Monte-Generoso-Bahn, über Restaurants, Cafés bis hi zu anderen Aktivitäten oder Promotionen in der Tourismus- und Gastronomiebranche will die ADMG alle Synergien zur Erhaltung, Wiederbelebung und Förderung des Gebiets des Monte Generoso bündeln. Dabei unterstützt die ADMG die Eigentümer der jeweiligen Einrichtung bei der Organisation der Tätigkeit, der Festlegung der Preise, der Ausstattung und den Leistungsparametern.
Aufwachen
Apropos Vernetzung: Manchmal muss man im Leben neue Wege einschlagen, um eine Veränderung und einen Ausbruch aus den Alltagsroutinen einschlagen zu können, Neues zu wagen und weitere Perspektiven zu bekommen. Dabei muss dies nicht für jeden sofort eine berufliche Umorientierung bedeuten, sondern kann durchaus auch lediglich eine kurze Auszeit vom Alltagsstress und ein Eintauchen in die Ruhe der Natur bedeuten. Somit bezieht sich das Aufwachen hier eindeutig nicht nur auf das erholte Erwachen der Hotelgäste inmitten der absoluten Idylle, sondern zieht sich vielmehr als roter Faden durch das gesamte Projekt, das letztlich ein kleines Tessiner Bergdorf zu einem der grössten Hotels der Schweiz wandelte.
Raus aus der Stadt – alle Angebote zum Albergo Diffuso und zur Monte-Generoso-Region finden Sie auf staygenerous.ch.