Alte Muster neu gestrickt

Umgeben von sattgrünen Hügeln und eingebettet in die tief verwurzelten Traditionen des Appenzells, liegt der 1500-Einwohner-Ort Gonten im Schatten des Alpsteinmassivs. Genau hier trifft Tradition auf Moderne – besser gesagt im revitalisierten Huus Löwen. Spielte bislang eher der Tagestourismus eine Rolle in der Appenzeller Gemeinde, laden nun die 24 Zimmer des von Rüssli Architekten sanierten Hotels Reisende ein, sich von der lokalen (Bau-)Kultur, dem Handwerk sowie von feinen Gaumenfreuden verzaubern zu lassen. Somit zeigt dieses ganz besondere Gästehaus als Teil des grösser gedachten Appenzeller -Huus-Komplexes und als Erweiterung des Dorfkerns, wie alte Traditionen behutsam in die heutige Zeit transformiert werden können.

Das Bild des Appenzell ist geprägt von einer Landschaft aus grünen Hügeln, der markanten Silhouette des Alpsteinmassivs sowie von der intensiven Nutztierhaltung und nicht zuletzt von Traditionen wie dem Handsticken, der Sennensattlerei und insbesondere dem Holzbau. Angesichts dieser Bandbreite an lokalen Besonderheiten sollte anstelle des „Halts auf Verlangen“ in Gonten vielmehr ein „Halt auf Empfehlung“ auf der Agenda stehen. Benannt nach den früher in dieser Gegend üblichen Moortümpeln, den sogenannten „gunten“, hat sich die seit dem 11. Jahrhundert besiedelte Gemeinde im Appenzell mittlerweile zum beliebten Ausflugsziel gewandelt. Dass sich genau hier nun ein neues touristisches Angebot etabliert, verwundert daher kaum: Mit dem Konzept des „Appenzeller Huus“ will der Unternehmer Jan Schoch nicht nur einen Weg weg vom Tagestourismus einschlagen, sondern zudem die lokale (Bau-)Kultur bewahren, Genuss in jeder Facette zelebrieren und mit diesem Vorhaben gleichzeitig insgesamt 80 neue Arbeitsplätze in der Region schaffen. Dabei spricht er Themen an, die allesamt zu den Zielen des kantonalen Tourismusleitbildes gehören.

Weiterdenken
„Bitte anhalten“ und nicht weiterfahren ist demnach das (neue) Motto für Gonten – denn mit einem Blick in Richtung Zukunft wird hier auf ein Weiterdenken und -wachsen anstelle des Stehenbleibens fokussiert. Hierfür soll der rund 1500-Seelen-Ort dank eines mehrteiligen Hotellerieprojekts sich weg vom Durchgangsort und hin zum mehrtägigen Stopp und Ausgangspunkt für weitere Erlebnisse wandeln: Unter dem Namen „Appenzeller Huus“ schafft das Luzerner Architekturbüro Rüssli ein neues Quartier, das Gonten neuen Aufschwung verschaffen und gleichzeitig eine Hommage an die Appenzeller (Bau-)Kultur repräsentieren soll. Die fünf neuen Gebäude – in traditioneller Strickbauweise oder einer modernen Abwandlung dieser – stellen eine städtebauliche Erweiterung ausgehend vom historischen Hotel Bären dar, die alle individuell gestaltet sind und zudem durch ihren eigenen Charakter und unterschiedliche Angebote begeistern. Darunter auch das Huus Löwen, das vis-à-vis dem roten Traditionshaus Bären dieses Jahr in Gonten seine Türen neu geöffnet hat und in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof eine einmalige Übernachtungsmöglichkeit präsentiert. 

Traditionen weiterstricken
Zuvor hat das denkmalgeschützte Haus einst als rustikale Wirtschaft schon Gäste verwöhnt und später als Bäckerei für süsse Momente gesorgt. Seit diesem Juni beherbergt das renovierte als auch erweiterte Huus Löwen in seinen 24 liebevoll eingerichteten Zimmern nun Besucher:innen des Appenzellerlands auch über Nacht. Charakteristisch für das erste eröffnete Gebäude des mehrteiligen Hotellerieprojekts ist dabei die Präsenz Appenzeller Traditionen, deren Bewahrung und Wertschätzung ein zentrales Thema im gesamten Bauvorhaben darstellt. Ersichtlich wird dieser beabsichtigte Umgang mit der lokalen Baukultur bereits in der äusseren Erscheinung der neuen Unterkunft, die sich aus dem denkmalgeschützten Ostteil und dem westseitigen Ersatzneubau zusammensetzt. Die Unterteilung der beiden Häuser in Alt und Neu wird dabei in der Fassade klar gezeigt, wobei jedoch die Farbgebung als auch das weisse Sockelgeschoss als verbindende Elemente beider dienen. Damit führt das bunte Aussenkleid ebenso wie die typische Bauweise im Appenzeller Strickbau des Doppelhauses die architektonische Tradition im Gontner Ortsbild fort. So präsentieren sich das Haupt- und das Nebengebäude gleich, aber dennoch anders: Im selben Farbschema, jedoch unterschiedlich umgesetzt, heben sich die beiden Gebäudeteile nun klar voneinander ab, wobei sie sich dennoch ergänzen und eine farbliche Einheit bilden. Während der sanierte Bestandsbau weiterhin in die regionaltypischen, geschlauften Schindeln gehüllt ist, wurde das neu errichtete Nebenhaus mit einem Kleid aus einer vertikalen Lattung versehen. Beide Häuser präsentieren sich dabei in denselben Ocker- und Grün-Farbtönen, wobei sich jedoch je nach Blickwinkel die dominante Farbe der neuen Fassade am Westgebäude ändert und somit ein facettenreiches Farbspiel eröffnet. Dieses bewusste Wechselspiel in der Gebäudehülle ist jedoch keine Neuerfindung, sondern vielmehr ein typisches Gestaltungsmittel der Region, das zur optischen Teilung von Haupt- und Nebenbau dient.

Gut gestapelt
Charakteristisch ist wie schon erwähnt insbesondere die massive Holzbauweise des Hotels, in welcher auch der Westflügel analog zum denkmalgeschützten Haupthaus neu errichtet wurde. Untypisch vertikal angeordnete Holzbohlen im Erdgeschoss bilden zuunterst die tragende Struktur und sind im Inneren komplett sichtbar belassen. Mit dieser Transparenz und Ehrlichkeit in der Konstruktion wandeln die Architekten die Bauweise zum gestalterischen Element der Innenräume und lassen dadurch gleichzeitig die Baukultur hautnah erfahrbar werden. Vor allem in den oberen Geschossen prägt der Strickbau massgebend das Erscheinungsbild der Räume mit: Die Besonderheit in dieser Bauweise liegt in den Eckverbindungen der Massivholzbalken, die ohne Vorhölzer auskommen und daher nicht über die eigentliche Wandbreite hinausragen. Schwalbenschwanzförmige Enden der Balken machen es möglich, die Ecken wandbündig miteinander zu verbinden – oder anders und anschaulicher gesagt: zu verstricken. Für ebenjene Abschlüsse haben die Architekten extra Köpfe designt, die Abschlüsse der Balken an den Eckpunkten zieren und dem traditionellen Holzbau gleichzeitig einen modernen Hauch verleihen. Tradition trifft jedoch auch in der Umsetzung des Neubaus auf Moderne: Mithilfe von Vorfabrikation und eigenen Abbundmaschinen konnte das Haus innert viereinhalb Tagen maschinell „zusammengesteckt“ und aufgestellt werden, wobei selbst der Liftschacht in diesem Projekt in Holz umgesetzt wurde. Dieser sitzt nun mehr oder weniger mittig zwischen beiden Hausteilen und ermöglicht einen barrierefreien Zugang zu den in der Höhe versetzten Geschossen beider Bauwerke. Das nötige Know-how zum traditionellen Holzbau holten sich die Architekten dabei vom Holzspezialisten Hermann Blumer, der als Koryphäe auf diesem Gebiet international als Berater gefragt ist.

Naturnah
Doch nicht nur in der Verarbeitung sowie der Konstruktion, sondern zudem auch schon bei der Materialwahl wurde die Messlatte hinsichtlich der Qualität sehr hoch gelegt: So wurde für den Bau lokales Holz verwendet, wofür nur Fichten aus dem Appenzell geschlägert wurden. Demnach wurde das Holz lediglich während bestimmten, als günstig angesehenen, Mondphasen geerntet, dem dadurch eine Reihe aussergewöhnlicher Holzeigenschaften wie eine lange Haltbarkeit, eine höhere Witterungsbeständigkeit, eine Unempfindlichkeit gegen Fäulnis und Insektenbefall sowie unter anderem Schwindarmut nachgesagt wird. Ein weiteres Stück Natur ist in den aussen liegenden Verkleidungen der Fensterrahmen des Ersatzneubaus zu finden, die in lokalem Sandstein umgesetzt wurden. Neben der Materialwahl zieht sich das Thema der Nachhaltigkeit auch in anderen Punkten als roter Faden durch den Hotelbau fort: Demnach decken vollflächig auf dem neuen Kupferdach verlegte Solarpaneele gemeinsam mit der Erdsondenheizung den gebäudespezifischen Energiebedarf ab. Doch auch für das Raumklima wurde auf Natürlichkeit gesetzt, sodass eine freie Lüftung gemeinsam mit naturnahen Materialien im Innenraum für eine angenehme Atmosphäre sorgt.

Innen wie aussen
Für noch mehr Ambiente sorgt im neuen Gästehaus ein stimmiges Einrichtungskonzept, das sich im Neubau auf gedeckte Farben mit dunklen Akzenten konzentriert und im Bestandsgebäude den Zustand von 1878 bestmöglich erneut aufgreift. Wie bereits in der Fassade unterscheiden sich somit beide Gebäudeteile auch in ihrer Inneneinrichtung klar voneinander, wobei sie sich dennoch in Gemeinsamkeiten wie identen Möbelstücken und den Böden aus Eichenholz oder diversen Verzierungen im Stil der St. Galler Spitze wiederfinden. Im Neubau wird der Strickbau ebenfalls zum dekorativen Element, trifft hier auf schwarze Details und erhält mit den Bettkopfteilen, die dank Ausfräsungen mit traditionellen Mustern und farbigen Akzenten versehen sind, weitere Highlights. Der ältere Gebäudeteil zeigt sich hingegen traditioneller: Für die Sanierung wurde dieser im Inneren ausgehöhlt und dessen historische Grundrisse an die neuen Anforderungen angepasst – insbesondere das Integrieren der vorher fehlenden Badezimmer stellte hier anfangs eine planerische Herausforderung dar. Ansonsten blieb der denkmalgeschützte Teil weitgehendst in seiner Erscheinung erhalten: Die originalen Täfer wurden revitalisiert, die alten Decken und Böden erhalten und der historische Strickbau sichtbar belassen. Ganz gemäss der originalen Optik prägen Weiss und Grau das Farbkonzept in dieser Hälfte des Hotels. So spiegelt die Gestaltung der Innenräume schlussendlich das Konzept der äusseren Erscheinung wider, wonach beide Häuser klar unterschieden werden können, jedoch verbindende Elemente sich als roter Faden durchziehen. Bindeglieder beider Generationen des Huus Löwen stellen unter anderem die Eichenmöbel, die St. Galler Spitze als Dekorationselement oder die Badezimmer dar, deren Duschkabinen in auffallend türkisen Fliesen – analog zu den geschlauften Schindeln der historischen Fassade – ausgeführt sind.

Mehr als ein Hotel
Facettenreich und gut durchdacht wie das Farb-, Material- und Gestaltungskonzept ist auch das Angebot im Huus Löwen: Zusätzlich zu den Familienzimmern, Suite und den Doppelzimmern bietet sich das revitalisierte Gebäude auch als Treffpunkt für die lokale Bevölkerung an. Im Erdgeschoss des neu errichteten Anbaus ist ein multifunktionaler Saal untergebracht, der dank Akustikpaneelen sowohl für Konzerte, Bankette, Hochzeiten als auch als Diskussionsplattform für das Appenzeller Kulturforum Verwendung findet und somit das Angebot des Hauses erweitert. Passend dazu wurde angrenzend im Parterre des alten, östlichen Gebäudes eine Küche eingefügt, welches die diversen Veranstaltungen kulinarisch versorgen kann. Doch neben seiner Multifunktionalität begeistert der neue Kulturraum insbesondere durch seine Optik: Bereits beim Betreten des Raumes steigt einem ein intensiver Holzduft in die Nase, beinahe raumhohe Fenster sorgen für viel Tageslicht, und die Präsenz von Holz gemeinsam mit hellen Farben lässt alles in allem eine überaus behagliche Atmosphäre aufkommen. In den Abend- und Nachtstunden wird der hölzerne Saal zudem von auffallenden Lampen erhellt, die sich jeweils aus mehreren Kugeln zu einem Glasgebilde zusammensetzen. Zusätzlich zur Architektur und Ausstattung punktet der Mehrzwecksaal für öffentliche als auch private Festlichkeiten durch seine Lage direkt neben dem Bahnhof Gonten, sodass die Anreise per öffentliches Verkehrsnetz gefördert und das Verkehrsaufkommen in der Appenzeller Gemeinde nicht unnötig belastet werden soll – wobei Gästen natürlich auch ein Schlafplatz vor Ort zur Verfügung steht.

Neuanfang
So schliesst sich hier der Kreislauf des neuen Angebots in Gonten, wo der Halt auf Verlangen nun zum längerfristigen Aufenthalt wird und dabei nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Von grosser Bedeutung ist dabei der Aspekt der Authentizität, wofür der Einbezug und die Wahrung von Traditionen eine grosse Rolle spielt. So verwundern die Präsenz des Appenzeller Strickbaus, typischer lokaler Dekorationen und die Verwendung regionaler, natürlicher Materialien kaum: Schlussendlich wird dadurch nicht nur Handwerk und Geschichte wortwörtlich weitergestrickt, sondern zudem der Dorfkern mit dem Projekt des Appenzeller Huus behutsam um ein neues Quartier erweitern.

© Agi Simoes, Reto Guntli

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