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Meet & Greet

Im Verkehrsknotenpunkt vom Zürcher Hauptbahnhof und mittendrin im gesellschaftlichen Treiben unmittelbar an der Langstrasse hat das Architekturbüro Enzmann Fischer Partner eine neue Landmarke an diesen regen Treffpunkt gesetzt. Das dreiteilige Zollhaus der jungen Zürcher Genossenschaft Kalkbreite nimmt dabei die verschiedensten Programme aus der Umgebung auf, schafft einen Ort der sozialen Vernetzung und wirkt wie ein urbaner Dschungel am Rande der Gleisfelder.

An der Kreuzung der Zürcher Langstrasse mit der parallel zu den Gleisen verlaufenden Zollstrasse herrschte stets schon reges Treiben, wenn auch damals noch als wichtiger industrieller Umschlagpunkt. Wieder an Wert und Bedeutung sollte diese ehemals bedeutende Zone hinter den sieben Gleisen ab 2011 gewinnen, wofür agps Architecture eigens einen Gestaltungsplan konzipierten und künftig viel mehr attraktive Wohn- und Aufenthaltszonen vorgesehen haben. Demnach sollten letztendlich neun Bauwerke, drei ausgestaltete öffentliche Plätze sowie fünf Baumreihen den Stadtraum gegenüber der Europaallee bespielen. Für die Nutzung dieses letzten freien Baugrunds wurden zwei separate Wettbewerbe durchgeführt, die letztendlich zum jetzigen Endergebnis führten. In einem ersten Auswahlverfahren musste die Genossenschaft Kalkbreite mit ihrem Konzept zuerst die Stadt Zürich überzeugen, bevor in einer weiteren Ausschreibung die Neubespielung und -bebauung der Parzelle an das lokale Architekturbüro Enzmann Fischer Partner vergeben wurde. Mit seinem lebendigen Nutzungskonzept, seinem verspielten Entwurf und dem dennoch klaren Gestaltungswillen konnte sich das lokale Büro gegenüber den weiteren 101 Mitbewerbern durchsetzen und sein – vor allem im Wohnbereich – innovatives Projekt „Esperanto“ realisieren.

In Bewegung
Im Zentrum des neuen Entwurfs steht die Idee, die Lebendigkeit und Dynamik des umgebenden Quartiers in den Bau aufzunehmen, die Vernetzung im Hausinneren fortzuführen und sowohl öffentlichen als auch privaten Raum unter einem Dach in Einklang zu bringen. Dabei galt es, sowohl die diversen städtebaulichen Vorgaben einzuhalten, als auch den eigenen Gestaltungswillen mit diesen auf einen Nenner zu bringen. Demnach mussten – wie bei der Wohnüberbauung von Esch-Sintzel Architekten in der gleichen
Strasse – erneut drei eigenständige Baukörper realisiert, die vorgegebenen Sichtachsen eingehalten, die Quartiertransparenz zu den Gleisen hin gewährleistet und natürlich auch die maximalen Höhen berücksichtigt werden. So entstand ein umfangreicher Katalog an Anforderungen, auf den das Architekturbüro Enzmann Fischer mit den drei einheitlichen, aber dennoch unterschiedlichen Bauten antwortete.

Präsenz zeigen
Optisch präsentiert sich das neu errichtete Trio in einer rohen Materialität, die eine Anspielung an die frühere dort ansässige Industrie ist und zudem eine unvoreingenommene Bühne zur weiteren, individuellen Bespielung erlaubt. Unbearbeiteter Sichtbeton, unverputzte Betonwände, die durch einen bewusst freieren Betonierprozess Rostpatina zeigen, sowie die gewellten Faserzement-platten von Eternit auf einer hinterlüfteten Holzständerfassade prägen die äussere Erscheinung. Anders als sonst wurden die Fassadenelemente mit der rauen Seite nach aussen montiert und sollen so künftig die Ausbildung einer Patina bewusst fördern. Zudem erlauben die Aussenwände im Holzelementbau geringere Wandstärken, wodurch im Innenraum zusätzliche Quadratmeter  gewonnen werden konnten. Der Fokus der Architekten lag bei der Materialwahl demnach verstärkt auf einer natürlichen sowie ehrlichen Erscheinung, die gewollt eine alternde Architektur zeigen soll und in ihrem Ausdruck dabei möglichst einfach und direkt bleibt. Auf Wunsch der Genossenschaft – vor allem hinsichtlich der Baukosten – wurde auf private Balkone bei den einzelnen Wohnungen verzichtet, sodass sich die Gebäudehülle nun als eine flache, homogene Aussenfassade in einem schlichten Grauton präsentiert. Gleichzeitig wurde umso mehr Wert auf grosszügige Aussenräume gelegt, die dem Anspruch und dem Streben der Bauherrschaft nach Gemeinschaft gerecht werden.

Die Mischung machts
Um einiges bunter zeigt sich hingegen die Verteilung des Raumprogramms sowie die Auswahl der neuen Bewohner: Über die Etagen des Komplexes hinweg lassen sich ihrem Grad der Privatsphäre nach unterschiedliche Zonen ausdifferenzieren. So säumen diverse Geschäfte, Kultureinrichtungen und gastronomische Betriebe die Sockelbereiche der drei Bauten, bieten Dienstleistungen sowie Platz für die Gesellschaft an und holen somit die Lebendigkeit des Quartiers in die Innenräume. Fortgeführt wird dieses Miteinander auf der Gleisterrasse, die auf der Höhe des Bahnverkehrs einen öffentlich zugänglichen Freiraum aufspannt und die einzelnen Gebäude des Zollhauses darin einbindet. Im Geschoss darüber befindet sich eine halb öffentliche Zone, die insbesondere im Haus A mit einem kleinen Hotelleriebetrieb und dem Kindergarten im Haus C zum Ausdruck kommt, und mit privaten Räumlichkeiten in den obersten Stockwerken abgeschlossen wird. Analog zur Diversität der Nutzerzonen präsentiert sich auch die Durchmischung der Bewohner und -nutzer gleichermassen vielfältig: Von Alterswohngemeinschaften über Asylantenwohnungen bis hin zu Familienwohneinheiten in unterschiedlichen Grössen sowie dem Kindergarten, der Gastronomie und diversen Workspaces soll eine höchstmögliche Vielfalt bezüglich Alter, Herkunft, Beruf, Geschlecht usw. gewährleistet werden.

Gut verteilt
In aufsteigender Reihenfolge ist das Haus C, sowohl in seinem Volumen als auch seinen Benutzern nach, der kleinste Bau, der dennoch die grosszügigsten Fensterflächen bekommen hat. Insgesamt finden dort im Kindergarten rund 50 Kleinkinder aus dem Quartier und direkt aus dem Zollhaus im Alter zwischen vier und sieben Jahren einen Betreuungsplatz. Das Besondere an diesem neuen Kinderparadies ist der Spielplatz auf der Dachfläche des Gebäudes, sodass die bunte Spiellandschaft bereits schon von weitem gut erkennbar ist. Im mittleren Gebäude sind hingegen verschiedene Büro- und Seminarräume: Unter anderem ist hier eine neue Anlaufstelle des Regenbogenhauses, einer LGBTQ-Organisation, untergebracht sowie Meetingräume der Genossenschaft Kalkbreite selbst. Angeordnet sind die Gruppen- und Büroräume entlang der sogenannten Rue intérieure, die sich parallel zur Zollstrasse durch das zweite Gebäude zieht. In den vier darüber liegende Etagen befinden sich Wohneinheiten mit bis zu neun Zimmern – vom 25 m2 Studio bis hin zur 220 m2 Clusterwohnung. Der grösste Baukörper steht unmittelbar an der Langstrasse und wurde von den Architekten mit Absicht leicht abgedreht platziert. Durch diesen Entwurfskniff konnte der Bau an Raumtiefe gewinnen und eröffnet nun zwei einladende Vorplätze in Dreiecksform. Schräg präsentiert sich auch der Eingang dieses Baus, der den Besucher ins Innere des Hauses A führt und in einem 11 m hohen Atrium endet. Umgeben wird dieser dreigeschossige Luftraum zur einen Seite von einem Theater- und Kultursaal, während auf der anderen Seite ein Restaurant das Erdgeschoss samt Aussenraum bespielt. Eine breite Treppe führt vom Entree weiter in das erste Geschoss, das sich auf dem Niveau der Gleisfelder befindet und diverse Flex-Räume sowie den Barbetrieb Gleis beherbergt. Hier verbinden grosse Fensterfronten die Aussenterrasse mit dem Innenraum, stehen in Kontrast zu den Sichtbetonwänden und erhöhen zudem den Tageslichtanteil im gesamten Innenleben. In der Etage darüber wurde eine kleine Pension mit 15 Zimmern eingeschoben, bevor ab dem dritten Stockwerk die privaten Wohnbereiche zu finden sind. Einerseits dient das Guesthouse als günstige Besucherunterkunft für die Bewohner des Zollhauses, kann aber genauso von der breiten Öffentlichkeit als preiswerte Übernachtungsmöglichkeit gebucht werden.

Wie gewohnt
Gewohnt wird im restlichen Zollhaus, wie schon erwähnt, in 1-Zimmer-Studios bis hin zu 9-Zimmer-Clusterwohnungen, die sich vor allem in den oberen Etagen des mittleren Baus befinden. Noch experimenteller zeigen sich dabei die Wohnkonzepte im grössten Bauwerk zur Langstrasse hin. Oberhalb der Pension ordnen sich Wohnungen in den verschiedensten Formaten rund um das dort offen gestaltete Atrium an, das zugleich einen lärmgeschützten, gemeinschaftlichen Freiraum eröffnet. So bespielen im dritten Obergeschoss des Hauses A vier Hallenwohnungen mit einer Raumhöhe von 4,1 m den Grundriss und bieten Platz für individuelle Wohnkonzepte. In diesen vielmehr „leeren“ Einheiten von 40 m2 bis hin zu 265 m2 sind die Bewohner aufgefordert, den Innenausbau sowie die Raumaufteilung ihren Ansprüchen anzupassen. Während die Nassräume und die Kücheninseln in den einzelnen Hallen bereits fest vorgegeben sind, liegt der weitere Innenausbau in der Eigenverantwortung der Bewohner – aufgrund der Raumhöhe können auch Wohngalerien eingezogen werden. Die mit Sicherheit gewagteste Wohnformt beschreibt hier das Projekt „Zurwolke“ von Mätti Wüthrich und seiner Partnerin Eva Maria, die mit einem hohen Mass an Eigeninitiative das Hallenwohnen raus aus der illegalen Hausbesetzerszene geholt und in eine legale Wohngemeinschaft umgewandelt haben. In sieben doppelgeschossigen Wohntürmen mit je 9 m2 Grundfläche, die von ihren Nutzern selbst umgesetzt werden können, nutzen die insgesamt zwölf fixen Mitbewohner mit  weiteren „Floatern“ und Atelierbenutzern die grösste Halle – von Familien mit Kindern bis hin zum Studenten. Darüber hinaus wurden die einzelnen Wohneinheiten auf Rollen umgesetzt, sodass diese in einem Zyklus von zwei bis drei Monaten ihren Standort innerhalb der Halle ändern können, und so ein jeder in den Genuss der unterschiedlichen Stellplätze kommen kann.

Für morgen
Ebenso wie in den Wohnformen sowie bei den Benutzern wird die Diversität in der Begrünung des Komplexes grossgeschrieben. Wurde anfangs noch eine begrünte Fassade gewünscht, wurde diese Idee aufgrund zu aufwendiger Unterhaltung und Pflege verworfen und stattdessen die Begrünung in den Innen- und Aussenräumen sowie auf den flachen Umkehrdächern fokussiert. So ist die gemeinschaftliche Dachterrasse auf dem grössten Baukörper nun mit mobilen Pflanzentrögen versehen, sodass der Freiraum je nach Wunsch vergrössert oder auch verkleinert werden kann – und gleichzeitig einen Mehraufwand in der Statik erforderte. Insgesamt wurden 44 Bäume auf der Parzelle neu gepflanzt, die künftig der Beschattung dienen sollen, sowie Pflanzentröge an der Fassade angebracht und das grosse Atrium mit hängenden Pflanzen zu einem urbanen Dschungel gewandelt. Nebst der Biodiversität ist Nachhaltigkeit ein zentrales Thema im Projekt Zollhaus: Auf dem Dach des mittleren Volumens befinden sich Solarkollektoren zur Stromerzeugung, zusätzlich wird auf Erdwärme gesetzt, und zudem erfüllt das Projekt die Minergie-P-Anforderungen. Doch auch im gesellschaftlichen Bereich wird das Thema Nachhaltigkeit aufgegriffen: Während sich im Kanton Zürich der ökologische Fussabdruck pro Person auf 45 m2 beläuft, konnte dieser in der neuen Bebauung auf 30 m2 – inklusive der Gemeinschaftsflächen – reduziert werden. 

Charakterstark
Doch was ist das Zollhaus nun? Vielfalt pur. Denn durch und durch zeichnet sich das Projekt im Zürcher Kreis 5 – von der Nutzung, den räumlichen Situationen bis hin zu den Bewohnern – durch alles andere als monotones Programm aus. So ist es ein offenes Haus für das Quartier und ein Statement gegen die Gentrifizierung. Zugleich ist das Zollhaus ein Bekenntnis zur Stadt der kurzen Wege, das von der Dynamik der Umgebung lebt, diese aufnimmt und zum Teil des Konzepts macht. Dabei eröffnet der Neubau eine neutrale Bühne für experimentelles Wohnen und leistet als grüne Oase und urbaner Dschungel einen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Somit ist nebst dem Zürcher Verkehrsknotenpunkt ein Ort der Begegnung und der Gemeinschaft entstanden.

© Annett Landsmann

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